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Archiv-Artikel

Ein Gerücht und ein Gespenst

CASTORFS NACHFOLGE

Müller & Renner fehlt eine erkennbare Vorstellung von der Entwicklung der Theater

Es ist nur ein Gerücht: Seit über einer Woche ist die Rede davon, dass Chris Dercon, der in London die Tate Modern leitet, ein möglicher Nachfolger für Frank Castorf als Intendant der Volksbühne sein könnte. Doch wie das mit Gerüchten so ist, sie entfalten eine unvorhersehbare Dynamik und lösen wie ein Versuchsballon eine Debatte aus. Erst ging es nur um die Volksbühne, dann um die Zukunft der Theaterstadt Berlin, schließlich um die Kulturpolitik der Stadt.

Offiziell bekannt gegeben wurde seitens der Kulturverwaltung des Senats letzte Woche nur, dass Frank Castorfs Intendanz um ein Jahr bis 2017 verlängert wurde. Damit ist ein kleiner Zeitpuffer entstanden, die längst überfällige Frage zu klären, wer nach Castorf die Volksbühne mit ihrem riesigen Zuschauersaal und ihrer 100-jährigen Geschichte übernehmen wird. Wird sie weiter ein Echoraum deutscher Geschichte sein, mit Ausläufern hinein in die Subkultur und einem weiten Herzen für vieles, was nach „Ost“ und verdrängter Vergangenheit roch? Wenn nicht, wohin soll dann die Reise gehen? Das ist von existenziellem Interesse auch für die anderen Theater der Stadt, schärfen sie doch ihre Unterschiedlichkeit aneinander.

Als der Name des Kurators der Tate Modern ins Spiel kam, löste das unterschiedliche Fantasien und Ängste aus. Bildende Kunst und Theater bewegen sich seit Jahren aufeinander zu, in Installationen, Videoarbeiten und Performances. Steckt der Wunsch, diesen Strang auszubauen, hinter dem Interesse an Chris Dercon? Dann möchte man doch vor der funktional festgelegten Architektur der Volksbühne warnen, die sich für solche oft komplizierten Formate nur bedingt eignet. Möchte man weniger deutsch sein und sich mehr international Künstler ins Haus holen? Dann schafft man Konkurrenzen zu gut funktionierenden Programmen am HAU und von den Berliner Festspielen. Mit einer Kulturverwaltung, die über ihre Ideen schweigt, kann man diese Fragen nicht diskutieren. Das macht ihre Methode zum Problem.

Aus diesem Anlass warf Claus Peymann, Intendant am Berliner Ensemble und geübter Polterer, dem Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller sowie dem Kulturstaatssekretär Tim Renner in einem offenen Brief völliges Versagen vor. Ihnen fehle eine erkennbare Vorstellung von der Entwicklung der Theater. Peymann markierte damit die eklatante Unsichtbarkeit, die Michael Müller bisher als Kultursenator auszeichnet. Befeuert durch ein Gerücht, scheint diese Leerstelle plötzlich von gespenstischem Ausmaß. Und Peymanns Forderung nach einem eigenständigen Kultursenator ziemlich sinnvoll.

KATRIN BETTINA MÜLLER