: Was würde Goethe dazu sagen?
OSTERSPAZIERGANG Von der Unmöglichkeit des gemächlichen Gehens im Moloch Kairo
VON KHALID EL KAOUTIT
Ich musste lachen, als ich den Auftrag bekam, einen Text über Spazierengehen in Kairo zu schreiben. Nicht weil ich „spazieren gehen“ als Freizeitbeschäftigung erst in Deutschland kennengelernt habe. Bis zu meiner Einwanderung in die Bundesrepublik hatte von diesem Doppelwort nur das „Gehen“ für mich einen Sinn. Gehen – das war für mich ausschließlich eine Fortbewegung: von A nach B, geografisch zielgerichtet, um dort etwas Bestimmtes zu erledigen, das die eigene körperliche Anwesenheit erfordert. Von zu Hause in die Schule zum Beispiel. Strecken, die ich ab und zu zurückgelegt habe, indem ich mich von einem Taxi oder einem Bus befördern ließ. Nur wenn ich kein Geld hatte, musste ich laufen. Und das war sehr oft der Fall.
Ich musste außerdem laufen, wenn ich mich mit meiner Freundin getroffen habe. Laufen, das war für uns ein Vorwand, für alle, die uns zusammen hätten sehen können. Denn wir durften nicht zusammen gesehen werden. „Wir haben uns zufällig getroffen“, wäre eine der Ausreden gewesen. „Wir kommen gerade von der Schule“, war eine andere. Denn das wäre legitim, damit wären wir weiteren Fragen aus dem Weg gegangen, und sie hätte den Ärger zu Hause vermieden.
Gehen musste ich auch, um die langen freien Abende zu vertreiben, wenn ich kein Geld hatte, um mich in eines der Cafés in der Fußgängerzone meiner Geburtsstadt Tetouan im Norden Marokkos zu setzen und die Menschen zu beobachten, die die Straße hoch- und runterliefen. Stattdessen bin ich auch die Straße hoch- und runtergelaufen, wurde von denen, die in Cafés saßen, beobachtet.
Die erste Variante wäre mir lieber gewesen. Aber auch hier war für mich das Gehen zielgerichtet, zumindest geografisch. Von dem einen Ende der autofreien Mohammed-V.-Straße an das andere Ende und zurück. Keinen Kilometer. Nie bin ich bewusst rausgegangen nur um des Laufens wegen. Um das zu tun, was man hier in Deutschland laut Duden unter „spazieren gehen“ versteht: „gemächlich, ohne bestimmtes Ziel, gehen“.
Auch wenn ich das freiwillige, gemächliche Gehen nie betrieben habe, waren die Gänge in der Mohammed-V.-Straße lustig. Vor allem abends, wenn die Straße voller Mädchen war, die ebenso laufen mussten, weil sie nicht in Cafés sitzen durften und sonst nur zu Hause geblieben wären.
Aber dieser Text hier soll ja nicht das Spazierengehen in Deutschland oder Tetouan behandeln, sondern in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Ein Witz, denn hier, in der 19-Millionen-Metropole, funktioniert auch das zielgerichtet Gehen nicht richtig. Egal zu welcher Tageszeit.
Um das festzustellen, habe ich nur eine einzige Erfahrung gebraucht. Es war im letzten Mai. Meine eingeborene deutsche Freundin, die mit mir zusammen in Kairo wohnt, war erst ein paar Tage in der Stadt und wollte, wie man es hier in Deutschland, oder in jeder anderen europäischen Stadt tun würde, eine Stück mit mir zusammen laufen, statt mit dem Taxi zu fahren. Ich wusste, dass es nicht funktionieren würde, habe aber mitgemacht, um dem Vorwurf zu entgehen, aus reiner Faulheit immer nur mit dem Taxi zu fahren. Wir sind dann entlang einer vierspurigen Straße gelaufen, die allerdings von den örtlichen Autofahrern zu einer sechsspurigen gemacht wurde. Es war laut, heiß und stickig. Zum Glück gab es einen kleinen Streifen, den wir als Fußgänger benutzen konnten – der aber deshalb noch lange nicht als Bürgersteig zu bezeichnen ist. Wir mussten ständig Steinen und weiteren Gegenständen ausweichen. Und Menschen, die uns etwas verkaufen wollten oder uns einfach ansprachen, um zu erfragen, woher wir kommen. Oder anderen, die uns einfach nur in Ägypten herzlich willkommen heißen wollten. Es wurde noch lustiger, als der kleine Streifen schließlich zu Ende war und wir uns mitten auf der Straße befanden. Es gab keine andere Alternative, als die Straße zu überqueren. Doch das ist kein leichtes Unterfangen in Kairo. Wenn sie nicht dicht an dicht stehen, fahren die Autos dicht an dicht. Es wird gehupt und weitergefahren. So ist das Risiko, überfahren zu werden, nicht gering. Und meine Freundin gab das Vorhaben, zu laufen, vom Spazierengehen ganz zu schweigen, sehr schnell auf. Für das eine Mal und zum Glück auch für den Rest unseres Aufenthalts in Kairo.
Und trotzdem kommt man nicht drumherum, zu laufen. Manchmal ist man sogar schneller zu Fuß als mit dem Auto unterwegs, wenn es staut. Und das ist jeden Tag der Fall. Komisch findet meine Freundin das mittlerweile nicht mehr, denn für sie als Frau ist das Laufen noch abenteuerlicher als für mich. Ständig kommen irgendwelche Männer – jung, alt, gepflegt, ungepflegt, Polizisten – um die Ecke und wollen mit ihr reden. „I love you.“ „I like your style.“ Oder sie machen irgendwelche Geräusche, um auf sich aufmerksam zu machen. Spätestens dann ist das mit dem „gemächlichen“ zu Ende.