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Archiv-Artikel

Der Spielplatz im Sperrgebiet

KENNEN SIE BERLIN? (TEIL 1) Die Rheinsberger Straße 1 lag am Stasi-Spielplatz direkt hinter der Mauer. Damals galt die Gegend als uncool und tot. Heute wohnen hier Menschen in Townhouses – auf dem ehemaligen Todesstreifen

Kennen Sie Berlin?

■ Alteingesessene und Altzugezogene werden abwinken – aber selbst ihnen bietet der neue Berlin-Reiseführer des Trescher Verlags unerwartete Einblicke. 15 taz-Autoren erzählen in dem Band die Geschichte von Orten, die unspektakulär daherkommen, aber auf eine ganz besondere Weise das Wesen der Metropole verkörpern. In dieser und den kommenden Ausgaben präsentieren wir eine Auswahl. Der Band ist informativ und praktisch, auch dank herausnehmbarer Faltkarte. Ob Ausflüge in die Szene oder ins Grüne – Besucher werden schrittsicher an die Hand genommen.

■ S. Klimann, R. Knoller, C. Nowak: „Berlin“. Trescher 2011, 471 S., 400 Fotos, 17 Detailkarten, 16,95 Euro

VON ANJA MAIER

Die Fotos sind im Februar 1990 entstanden. Sie zeigen meine ein Jahr alte Tochter im Sperrgebiet an der Berliner Mauer. Sie und ich lebten damals in der Rheinsberger Straße 1, dem Eckhaus zur Strelitzer Straße. In diesen Monaten nach dem Mauerfall, als ich die Fotos machte, war plötzlich alles möglich. Sogar, dass ich mit meinem Kind in die einst verbotene Zone direkt an der Mauer ging, auf den Spielplatz, auf dem bis dahin nur die Kinder von Stasi-Mitarbeitern gespielt hatten.

Wir haben ihren Buddeleimer, ihre Schippe und Förmchen eingepackt und sind die paar Meter rübergegangen von unserer Wohnung zur Mauer, zu der wir bis dahin immer Abstand halten mussten. Verlassen war es dort an diesem Tag, kalt und klar. Ich sah leere Wäscheleinen und die Fahrspuren der Grenztruppen, die hier plötzlich nicht mehr fuhren. Einen leeren Sandkasten, ein einfaches Klettergerüst. Als seien die Bewohner dieser verbotenen Zone weggegangen, als lebten hier keine Kinder mehr, die spielen und toben. Der Herbst 1989, die aufregende, auch beängstigende Zeit des Umbruchs, war mit diesem Gang zum Spielplatz definitiv vorbei.

1987 hatte ich die Wohnung im ersten Stock bezogen, links die beiden Fenster waren mein Zimmer, das winzige Kinderzimmer, die Küche und das Bad gingen zum Hof hinaus. Direkt an der Berliner Mauer zu wohnen war nicht unbedingt die coolste Lage. Hier war ja das Ende der Welt, und entsprechend ruhig gestellt war die Gegend. Es gab so gut wie keine Geschäfte und Kneipen, dafür aber jede Menge Polizei. Blickte ich aus meinem Fenster auf die gegenüberliegenden Häuser, sah ich dort treue Staatsdiener vor ihren Fernsehern sitzen. Leute, die fast nie Besuch bekamen, weil ihr Hinterhof schon im Sperrgebiet lag, fast im Westen. Wer zu denen wollte, musste zwei Wochen zuvor einen Passierschein beantragen. Sie waren nicht zu beneiden.

Wenn es dunkel wurde, hörte ich die Hunde bellen, ab und zu tastete der gleißende Suchscheinwerfer vom Wachturm die umliegenden Fassaden ab. Wo der Turm stand, zog sich eine Mauer – die Mauer – quer über die Strelitzer Straße. Von dort aus wurden die Ost- und die Westberliner von den Grenzsoldaten beobachtet. Gleich 1990 wurde der Turm abgerissen, seit 2010 steht an seiner statt die elf Meter hohe Konstruktion aus Stahlwinkeln. Im Herbst 1989 war es besonders gespenstisch, in der Rheinsberger Straße zu wohnen. In Leipzig demonstrierten schon die Menschen gegen ihre Staatsführung, in Ostberlin zeigte die kirchliche Opposition mutig Flagge, viele meiner Freunde waren ausgereist, es herrschte große Unruhe. In den Tagen und Nächten um den 7. Oktober herum, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, standen plötzlich Armeefahrzeuge vor meinem Haus, Stoßstange an Stoßstange hinunter bis zur Brunnenstraße. Zum ersten Mal im Leben sah ich Soldaten mit schussbereiten Waffen und Schilden, wenn es dunkel wurde, hörte ich sie leise reden, rote Zigarettenkegel glimmten in der Nacht. Sie warteten auf ihren Einsatzbefehl. Erst später erfuhr ich, dass das Politbüro sich vorbereitet hatte auf Ausschreitungen, auf bürgerkriegsähnliche Zustände.

Direkt an der Berliner Mauer zu wohnen war nicht unbedingt die coolste Lage

Ich hatte große Angst in diesen Tagen. Ich war allein in der Wohnung im ersten Stock, mein Kind war ein Jahr alt, ich hatte kein Telefon. Ich dachte darüber nach, ob eine Kugel mich treffen könnte, ob Marodierende meine Wohnungstür eintreten würden, und schob abends die Kohlenkiste davor. Lächerlich. Schließlich brachte ich meine Tochter zu meinen Eltern an den sicheren Stadtrand. Es sah definitiv nach Krieg aus. Er hat nicht stattgefunden. Nach dem 9. November war alles verändert. Soldaten und Polizisten standen plötzlich lächelnd an den Übergängen nach Westberlin. Es war wie ein Wunder. Als ich das erste Mal von meinem Haus in der Rheinsberger rüberging in den Wedding, warf hinter dem Mauerdurchbruch jemand von einer Lastwagenfläche herab drei Bananen in Hannas Kinderwagen. Ich war ärgerlich, gedemütigt, fast aggressiv. Ich wollte und brauchte keine Almosen.

Meine Tochter studiert heute Politik. Sie ist ein schönes, kluges, weltläufiges Mädchen geworden. Neulich sind wir zusammen durch Mitte gelaufen. Ich habe ihr den Kindergarten gezeigt, in dem sie war, auch das Haus in der Rheinsberger Straße 1, in dem wir gelebt haben. Ich zeigte auf unsere Fenster und erzählte von den Tagen im Oktober, als vor unserer Tür fast der Krieg ausgebrochen wäre. Alles ist längst saniert, es gibt jetzt eine glänzende Klingeltafel aus Messing und einen Summer, damit nicht jeder ins Haus hineinkommt. Dort, wo meine Tochter an jenem Tag durch den Mauerstreifen gewackelt ist, wo der Stasispielplatz und die leeren Wäscheleinen waren, stehen heute Townhouses, smarte Behausungen für Leute, die es sich leisten können, auf dem ehemaligen Todesstreifen zu wohnen.