: „Ich konnte die verdammten Würstchen nicht mehr sehen“
Antje Hermenau hat sich durchs Leben gekämpft. Sie war noch nie so glücklich. Erst recht nicht an Weihnachten
Geboren: 3. Juli 1964 in Leipzig Beruf: Chefin Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag. Damit einzige Grüne, die mit der Partei die Rückkehr in einen Ost-Landtag schaffte, nachdem sie in den 1990ern in allen neuen Ländern rausgeflogen war. Mitglied im grünen Bundesparteirat. Bis zum Wechsel nach Dresden im Bundestag. Familie: Verheiratet seit 2006 mit dem 24 Jahre alten Dresdener Unternehmensberater Konstantin Wolf. Im selben Jahr Geburt des Sohnes Adel Friedrich Dirk. Ausbildung: Abitur an der Erweiterten Oberschule Thomas, Leipzig. Diplom-Sprachlehrerin an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Magister an der Verwaltungshochschule Speyer. Zum taz-Gespräch trafen sich Hermenau und Redakteur Georg Löwisch im Dresdner Landtag, Blick auf die Elbe.
INTERVIEW GEORG LÖWISCH – FOTO SVEN DÖRING/VISUM
Antje Hermenau ist eine der wenigen erfolgreichen Grünen, die nicht am Berliner Zermürbungskrieg um Joschka Fischers Erbe teilnehmen. Stattdessen verließ „Herminchen“, wie Fischer sie nannte, lieber schon 2004 den Bundestag und führte ihre Partei in Sachsen zum Comeback im Landtag. Seit einem Jahr ist sie auch Mutter.
taz: Frau Hermenau, was ist Ihre erste Erinnerung an Weihnachten?
Antje Hermenau: Keine Schöne. Der Weihnachtsmann kam in unser Wohnzimmer. Ich war noch klein, an die vier Jahre muss ich gewesen sein. Und ich musste im Wohnzimmer ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen. Ich habe mich sehr gefürchtet, er hatte so eine gruselige Pappmaske auf. Dann hat der Weihnachtsmann aber nach Alkohol gerochen. Da wusste ich, dass es mein Vater ist.
Sie wohnten damals in Leipzig.
Ja, in einem Altbau in Leipzig-Süd, in der Arndtstraße gleich neben der U-Haft. Hätten die sich mit dem Löffel durchgegraben, wären sie bei uns in der Schrankwand raus gekommen. Mein Vater hat in einer Gießerei gearbeitet, bei der GISAG.
Warum hat er getrunken?
Er war wohl nicht zufrieden. Er wäre gerne Offizier geworden, wie es in unserer Familie über Generationen üblich war. Aber weil die Familie aus dem Westen kam, wurde es nichts mit der NVA. Dann war er irgendwie geknickt, wollte Rennfahrer werden, ist ein bisschen Rennen gefahren. Motorrad. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, hat sie gesagt, er soll zu Hause bleiben.
Sie haben dann noch einen drei Jahre jüngeren Bruder und eine acht Jahre jüngere Schwester bekommen. Wie lief Weihnachten bei den Hermenaus?
Das schönste waren die Westpakete. Die haben so geduftet. Nach Westen, nach Intershop, also die Schokolade, der Kaffee, das Parfum von der Seife. Alles so rein. Mutti hat das Paket in der Küche aufgemacht, da war ich immer dabei. Ich hab nur eingeatmet.
Und Heilig Abend?
Es gab den obligatorischen Kartoffelsalat mit Würstchen. Wir hatten auch einen Baum und das war auch lustig, vormittags alles dran zu hängen. Da war mein Vater noch nüchtern. Später haben wir Kinder uns mit den Geschenken verkrümelt, der Papa hat sich eine Schnapsflasche genommen und meine Mutter hat den Fernseher eingeschaltet.
War Weihnachten besser oder schlechter als der Alltag?
Wir sollten uns auf einmal alle lieb haben. Obwohl das gar nicht gestimmt hat. Es war verlogen, ein Schauspiel, und wir haben das alle gespürt. Mein Bruder und ich haben uns gewünscht, dass es lieber das ganze Jahr so friedlich ist und wir dafür auf die Geschenke verzichten. Nur meine Schwester war noch so klein, dass sie es toll fand.
Wann zogen Sie von zu Hause aus?
Als ich 13, 14 war, haben sich meine Eltern scheiden lassen. Da habe ich die Familie geführt, weil meine Mutter dazu nur begrenzt in der Lage war. Den Papierkrieg, die Behördengänge. Als mein Vater wiederkam, war ich 17. Er wollte die Familie wieder übernehmen. Da bin ich gegangen.
In der DDR hatten Sie mit 17 eine eigene Wohnung?
Sie lag im selben Haus, war aber separat. Ich hatte meine eigene Tür, die ich zuschließen konnte, und habe das Gebrüll nur noch durch die Wände gehört. Etwas später bin ich ganz weggezogen in eine Art WG. Vielleicht konnte in dem Alter wirklich nur die Flucht helfen. Später habe ich mit Salma zusammen gewohnt, meiner besten Freundin.
Woher kannten Sie sich?
Wir kennen uns seit wir 14 sind. Aus der Schule. In ihrer Familie hab ich auch mal Zuflucht gefunden. Wenn‘s zu Hause gar nicht mehr ging, bin ich zu den Karasholis. Salmas Vater ist ein kurdischer Schriftsteller aus Syrien, der in den Sechzigern in die DDR ausgewandert ist. Ich habe auch ein enges Verhältnis zu Sleman, Salmas Bruder.
Was mochten Sie bei Karasholis?
Die Hauptsache war, dass ich nichts mit meiner Familie zu tun habe musste. Die Karasholis waren völlig anders. Das Offene und Intellektuelle gab es bei mir zu Hause nicht. Die Karasholis konnten von der Welt erzählen, die ich aus Büchern kannte.
Sie haben viel gelesen?
In der Kindheit stundenlang. Reiseberichte zum Beispiel. Mit zehn, elf bin ich mit den polnischen Autoren durch die Südsee geschippert, ich kannte all die Inseln. Bei den Karasholis war es ähnlich faszinierend wie in meiner Bücherwelt.
Zum Beispiel?
Sie bekamen öfter Verwandte zu Besuch, die völlig anders waren, als alles, was es in der DDR gab. Männer mit mehreren Frauen zum Beispiel. Oder einer, der an der Zimmertür Messerweitwurf übte. Salmas Familie hat es mir erlaubt, einen verstohlenen Blick in die Welt zu werfen.
Im Studium haben Sie sich dann die Welt in die DDR geholt und sich einen Amerikaner geangelt.
Ich weiß nicht, ob es das war. Der David sah auch einfach nach was aus.
Was hat ein US-Bürger bloß in der DDR gemacht?
Der wollte eine Professur kriegen an der Cornell Universität in Ithaka, New York. Und da hat er sich gedacht: DDR-Literatur hat keiner drauf in Amerika.
Wie feierten Sie zwei Weihnachten?
Ein paar ruhige Tage, ich hab‘ schön gekocht. Wie immer. Er hat sich oft Chinesisch gewünscht. Er hat mir das ungefähr beschrieben und ich habe geguckt, was es für Gemüse gab.
Shitake?
Weißkraut, Rotkraut, Schwarzwurzeln. Das habe ich dann gefummelt. Ich habe den Weißkohl frittiert und die Schwarzwurzeln mit Selleriesalz angerichtet. Weiß der Geier.
Irgendwann hat er Ihre Kochkünste nicht mehr ertragen.
Überhaupt nicht. Es war toll und die Liebe ging auch durch den Magen. Nach der Wende ist es halt auseinander gegangen.
Sie wurden nach und nach Politikerin bei den Grünen. Schreibt man sich da Weihnachtskarten unter Kollegen?
Ich kriege manchmal einen Weihnachtsgruß, aber eher selten. Ich werde sicher zwei Leuten eine schicken, Reinhard Bütikofer und Ekin Deligöz. Als die Ekin damals in den Bundestag kam, in die Grüne-Fraktion in Bonn, da habe ich gesagt: „Komm Ekin, die Türken und die Ossis müssen zusammen halten.“ Seitdem sind wir befreundet.
Ist es selten, dass in der Politik Freundschaften entstehen?
Schon. Wir sind keine Familie, keine Clique, wir sind Kollegen. Aber ein fairer Umgang ist wichtig.
Ist Fairness denn unnormal im politischen Betrieb?
Es geht schon oft sozialdarwinistisch zu in so einer Bundestagsfraktion – der Stärkste setzt sich durch. Die Tonlage ist häufig gereizt. Wer in der Politik Gemütlichkeit und Freundschaft sucht, täuscht sich. Das verschärft die Konflikte nur.
Woran würden Sie zeigen, dass Politik eine brutale Geschichte ist?
Ich habe Leute gesehen, die abgemeiert wurden. Antje Vollmer zum Beispiel. Als sie gegen Joschka Fischer und Kriegseinsätze gesprochen hat, da hat die Fraktion diese große Frau zusammengeschrumpft. Daraufhin haben Fraktionsmitglieder Werner Schulz vorgeschlagen, er könne den Job von Antje Vollmer haben als stellvertretender Bundestagspräsident. Und Werner sagte: „Ich bin doch nicht die Kugel, mit der ihr die Antje Vollmer abschießen könnt.“
Sie selbst lagen auch im Streit mit den Chefs von Rot-Grün.
Ja, als ich haushaltspolitische Sprecherin war. Ich hatte mit dem Eichel Krach, mit dem Schröder, mit dem Fischer und mit dem Kuhn. Es ging soweit, dass sich in Fraktionssitzungen keiner mehr neben mich setzte. Wenn ich gesprochen habe, haben einige beiläufig rumgemurmelt, als ob es nicht wichtig wäre.
Gehen die Grünen besser miteinander um, als Politiker anderer Parteien?
Ich kenne ja die anderen Fraktionen nicht von innen. Aber bei den Konservativen wird es vielleicht nicht so brutal öffentlich gemacht wie bei Grüns. Die lassen ihren Leuten öfter einen Weg zum geordneten Rückzug.
Sie waren schon Abgeordnete in Bonn, als Ihre Schwester starb.
Ja, das war 1995. Mein Bruder Dirk war da schon tot. Er hat sich 1988 kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag mit dem Motorrad totgefahren. Es war eine Verzweiflungstat. Er ist mit einer Riesengeschwindigkeit gefahren und hat das geschehen lassen.
Was passierte mit Ihrer Schwester?
Oona war schon mit 14 ausgebüchst aus der Arndtstraße und zu den Punks in irgendwelche Abrisshäuser gezogen. Dann kam sie wieder, und ihre Bauchspeicheldrüse war vom Alkohol völlig kaputt. Da hat der Arzt ihr gesagt: „Sie sterben oder sie hören auf zu trinken.“ Da war die am nächsten Tag trocken. Und hat mit dem Heroin angefangen. Wir haben über Weihnachten und Neujahr 1994/95 den Entzug bei mir in Bonn gemacht, weil sie keinen Platz in einem Entzugsprogramm bekommen hat. Es hat ganz gut geklappt. Zur Belohnung sind wir nach Paris gefahren. Danach war sie wieder weg. Ich habe die ganze Nacht gewartet, bin zur Polizei und habe die Krankenhäuser abgeklappert. Im Januar, ein paar Tage nach Weihnachten, hat die Polizei angerufen und gesagt, dass sie eine unidentifizierte Tote gefunden haben. Es war Oona.
Wie war das Verhältnis zum Vater nach dem Tod Ihrer Geschwister?
Ich habe mit ihm gebrochen, weil ich ihn für schuldig erklärt habe. Weil sein Alkoholismus zu einer unglaublichen Verzerrung in der Familie geführt hat. Die erste Kindheitserinnerung meiner Schwester ist, wie ihre Mutter weinend zwischen ihren Bausteinen landete, weil der Vater sie geschlagen hat. Mein Bruder Dirk sollte den machohaften Ansprüchen meines Vaters genügen. Er war aber eher ein musischer, ein zarterer Typ. Der wollte nicht Offizier werden oder so. Auch ich hatte ein schlechtes Verhältnis zu meinem Vater. Im Grunde habe ich ihn verachtet.
Wann sind Sie und Ihr Vater sich das letzte Mal begegnet?
Als mein Bruder 1988 starb, habe ich ihn auf der Beerdigung zum letzten Mal gesehen. Vor ein paar Jahren ist er gestorben.
Welche Rolle spielte Ihre Mutter?
Meine Mutter war Opfer. Und sie konnte uns Kinder nicht beschützen. Sie ist jetzt alt und ich bin erwachsen. Ich thematisiere das mit ihr nicht mehr. Sie leidet genug mit zwei verstorbenen Kindern.
Sie wurden vor einem Jahr, mit 42, Mutter – und Ihre Mutter Großmutter.
Ja, sie kommt manchmal zu uns nach Dresden und passt auf unseren Sohn auf. Wir feiern Weihnachten zusammen und sie kommt zum großen Fest.
Zum großen Fest?
Ich war schon ab 1997 zu Weihnachten bei Karasholis in Leipzig. 2001 haben wir, Muslime, Atheisten und Christen, zum ersten Mal darüber gesprochen, wie man Weihnachten zusammen feiern kann. Wir haben beschlossen, ein Land auszusuchen und die Speisekarte runterzurattern. Das machen wir jetzt immer. Einer wählt aus und es darf jedes Land auf der Welt sein. Ich konnte den verdammten Kartoffelsalat und die Würstchen nicht mehr sehen.
Was war 2001 das erste Land?
Frankreich. Es gab natürlich Cassoulet, vorher einen Wintersalat mit Roquefort und Wallnüssen. Als Suppe hatte ich eine Bouillabaise gemacht. Wir hatten eine Käseplatte und ein Dessert.
Haben Sie in Leipzig „Petit Papa Noel“ gesungen?
Das war das erste Mal, da haben wir nur die Küche gemacht. Dann haben wir gesagt: Die Kinder von Salma und ihrem Bruder beschäftigen sich vorher mit dem Land. Als Thailand dran war, haben sie den ersten Vortrag gemacht: König Bumipol, wie das Geld aussieht, was die Hauptreligion ist.
Sie kochen immer?
Ich bin der Chefkoch. Ich schenke sonst nichts, sondern ich kaufe alles ein. Bei der Ukraine zum Beispiel bin ich fast verzweifelt. Die machen zwölf Gerichte. Für jeden Monat eins. Zwölf Gerichte. Beim neunten haben ich das Kochen abgebrochen.
Was ist dieses Jahr dran?
Chile. Ich habe mir erst mal ein Kochbuch besorgt. Es gibt Ensalada Chilena, diesen typischen Salat mit Tomate und Zwiebeln, dann Empanadas und als dritten Gang einen Maisauflauf mit Hühnchen. Als Dessert mache ich einen Milch-Eier-Auflauf. Zum Essen trinken wir einen guten chilenischen Rotwein.
Wie viele sind Sie?
15 Leute. Die Karasholis, seit drei Jahren auch meine Mutter. Diesmal sind erstmals mein Mann und mein Kind dabei.
Ihr Sohn heißt Adel. Nach dem Vater Karasholi?
Richtig. Adel Friedrich Dirk Hermenau. Adel nach Adel Karasholi. Friedrich ist der Rufname, den hat mein Mann ausgesucht. Dirk ist mein Bruder, ich dachte, dass man wenigstens den Namen retten sollte. Hermenau hab ich mir ausbedungen, weil meine Familie ja irgendwie am Aussterben ist. Mein Mann hat gesagt, das geht in Ordnung.
Wie fielen die Reaktionen aus, als Sie mit 42 noch Mutter wurden?
Es gibt mehr Mütter in meinem Alter als Sie denken. Allein in meinem Schwangerenkurs waren drei über vierzig. Ich war bis ich 30 war nicht reif, einem Kind Geborgenheit zu geben, weil ich noch mit mir selber beschäftigt war. Überdies wollte ich auch, dass mein Kind einen liebevollen Vater bekommt.
Wie kriegen Sie es jetzt geregelt mit der Kinderbetreuung, als Grünen-Chefin im sächsischen Landtag?
Der Kleine ist in der Krippe, seit seinem dritten Lebensmonat. Wir haben eine gute Babysitterin, an die Friedrich gewöhnt ist. Sie kommt vielleicht einen Abend pro Woche. Ich hab das Glück, dass meine Schwiegereltern nicht sehr alt sind, mein Mann ist erst 24. Wenn es eng wird, können die mal einen Abend oder am Wochenende einen Tag übernehmen. Oder meine Mutter kommt.
Wie geht es 2008 weiter?
Normal. Ich plane im Moment kein Zweites. Wir haben mit dem einen genug zu tun. Wir sind voll berufstätig.
Aber wie es läuft, läuft es gut?
Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich. Eindeutig.
Das heißt, Sie wollen nicht Grünen-Vorsitzende werden?
Das wäre die Fahrkarte ins familiäre Unglück.
Haben Sie nie darüber nachgedacht?
Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt. Denn die Erneuerung der Grünen muss aus den Ländern kommen, nicht von der Bundesebene mit den vielen Möchtegerns und Hätteschons. Es haben mich auch Leute angesprochen. Aber ich sehe nicht, dass das für eine Frau in meiner Lebenssituation möglich ist. Die Arbeit hier in Dresden füllt mich aus. Sie lässt mir Platz fürs Privatleben, obwohl es knapp ist.
Aber Sie müssen sich bremsen?
Man muss Chancen ergreifen, aber nicht um jeden Preis. Meine Freundin Salma hat mal zu mir gesagt, ich würde dauernd mit gepacktem Rucksack an der Straßenkreuzung stehen, wo immer mal ein staubiger Bus vorbeikommt. Und würde da auch einsteigen. Das stimmt. Aber jetzt möchte ich, dass meine Familie mit an Bord ist. Sonst bin ich nicht dabei.