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Archiv-Artikel

Kratzpulli, halbgar

Nonkonformistisch zu sein, war mal schwer. Dafür war man leicht zu erkennen. Nun wollen alle sich so zeigen – ätzend!

VON KLAUS RAAB

Es gibt sie noch, die Angepassten. Wenn man dem Schuhhändler glauben darf, erkennt man sie am Inhalt des Schuhschranks. So ein Konformist, der dem Dresscode von Banken und Kanzleien unterliegt, braucht mindestens je ein Paar von folgenden Schuhen: schwarzer, glatter Derby ohne aufgesetzte Kappen; schwarzer, glatter Derby oder Oxford mit gerader aufgesetzter Vorderkappe; schwarzer Brogue oder Halfbrogue; sowie dunkelbrauner Brogue oder Chukka mit dezenter Gummisohle.

Das Problem ist: Spätestens bei der Krawatte ist Schluss. Wenn heute die Führungsmitglieder des Bertelsmannkonzerns – alles Männer – gemeinsam ohne Krawatten für Fotografen posieren, wie Mitte Dezember in Berlin, was heißt das dann? Dass etwa beim Bertelsmannkonzern, dessen Schlüsselwort das Phantom Wachstum ist, besonders modern und unkonventionell gedacht wird, was mit dem Foto vielleicht suggeriert werden soll? Oder eher, dass man auf textile Zeichen nicht so leicht hereinfallen darf?

Zeichen haben ihre fixe Kraft, zugeordnet werden zu können, eingebüßt. Wo war zuletzt eine schwarze Krawatte zu sehen? In einem Gitarrenrockclub, nachts um halb drei? Na bitte.

Es muss einst einfach gewesen sein, sich textil zu positionieren, zumindest kann es den Nachgeborenen in einem romantisch motivierten Rückblick manchmal so vorkommen. Pierre Bourdieu hat in einer Studie gezeigt, wie Abgrenzungen durch Geschmacksurteile markiert werden: „Geschmack klassifiziert, und zwar den Klassifizierenden selbst.“

Achtundsechziger klassifizierten sich per unkonventionellem Auftretens. Je rhizomartig wuchernder die Bärte, kratziger die Pullis, desto schärfer fühlte sich der Protest an. War es nicht so? Vielleicht kann man die Grünen als das berühmteste Beispiel heranziehen. Als sie in die ersten Parlamente einzogen, da strickten sie während der Debatten. Joschka Fischer wurde zu Karrierebeginn in Turnschuhen vereidigt. Sie trugen das Jahr 1968 noch in den Achtzigern mit sich herum, sichtbar für jeden, und sie gingen ganz schön auf den Keks damit.

Achtundsechziger mögen den Nonkonformismus nicht erfunden haben. Vor ihnen haben auch schon die Halbstarken, die Rocker, die Beatniks und andere, die sich gegen einen als starrsinnig empfundenen Mainstream wandten, mit äußerlichen Symbolen der Unangepasstheit Politik gemacht. Aber es waren die Achtundsechziger, die daraus besonders lärmend den Anspruch eines Umsturzes ableiteten.

Nonkonformismus war ein Gesamtkunstwerk, ein Masterplan, der sich aus politischem Engagement, ästhetischer Neuorientierung und körperlicher Unverblümtheit speiste – was aber zusammengehörte. Man konnte sich, nach allem, was man so hört, nackt ausziehen, alte Klamotten auftragen, sich wie Fritz Teufel einen Adventskranz auf den Kopf setzen, Bärte stehen lassen, querbeet durch die Landschaft vögeln, einerlei – für eine kurze Zeit galt das alles als ganz besonders politisch.

Textilien waren nicht mit einer Wagenladung voller möglicher Bedeutungen besetzt – Nonkonformismus war in vielen Fällen noch ein weitgehend eindeutiges Statement: Turnschuhe im Parlament, Jeans in der Oper, lange Haare, zerrissene Jeans sowieso. Will man ungefähr sicher gehen, am Türsteher einer Promidisko vorbei gelassen zu werden, braucht man Lifestylejeans. Keine Classic Jeans – sondern solche mit vielen Vintagewaschungen und irren destroyed stitchings, aufwändig selbst hergestellt. „Wer Lifestylejeans trägt“, sagt die Verkäuferin, „demonstriert Modebewusstsein.“ Oha.

Jeans ist also immer noch nicht gleich Jeans. Was von der ästhetischen Rebellion der Achtundsechziger aber blieb und sich durchsetzte, ist das Konzept des gefühlten Nonkonformismus. Die politisch-textile Synthese der Unangepasstheit dagegen, die die Achtundsechziger herstellten, hat sich weitgehend in Luft aufgelöst. Was sich auch daran erkennen lässt, auf einer linken Kundgebung nicht einmal mehr ansatzweise erkennen zu können, wer hier wohl Demonstrant ist und wer nur schaulustig.

Der während der Achtundsechzigerunruhen mit heute undenkbar anmutendem Vokabular propagierte Umsturz dessen, was Guy Debord „die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft“ nannte, ist missglückt. Jedes Zeichen des Protests wird heute umgehend vereinnahmt, als Ikone der Differenz in die Industrie eingespeist und von der Stange weg verscherbelt. Protest Wear wird in Windeseile zum Markenchic. Neonazis haben sich das Che-Guevara-Motiv angeeignet, Modedesigner längst das Punkkonzept für die Stange ausgeweidet. Wer aus politischen Motiven fair gehandelte Kleidung trägt und wer diese nur erwirbt, weil es einfach die besten Nickipullover sind, muss offen bleiben.

Via Textil eine politische Haltung zu demonstrieren, ist schwer geworden, auch wenn sich immer noch genügend Leute beim Otto-Versand einkleiden, wogegen selbstverständlich ohnehin nichts spricht. Denn Protest ist geil – oder zumindest die Demonstration von Nonkonformismus. Fernsehsender, Hardwareentwickler, Getränkehersteller haben sich allenthalben der Idee zugewandt, das Individuelle wie das gute Gemeinsame zu preisen: Das scheint schon Ausweis des Rebellischen genug.

ProSieben fordert inhaltlich etwas halbgar, aber mit großem Tatütata zum Klimaschutz auf. Apple bewarb seine Computer, als würde man die Welt retten, wenn man sie kaufte. Coca-Cola buchte für eine Werbetour den Sänger Adam Green, der einst aus dem New Yorker Antifolk kam – einer kleinen Bohème, die eine Gegenerzählung zum Amerika der Selbstzufriedenen formuliert und für die Verachtung des Etablierten stand.

Nonkonformistische Ästhetik ist massentauglich geworden, wie man in Berlin am Prenzlauer Berg sieht, Zentrum einer Sammlungsbewegung für alle Individualisten. Eine unangepasste Gestalt gleicht in ihrem Anderssein der anderen. Man kann spüren, dass vom Nonkonformismus ein gewisser Konformitätszwang ausgeht. Ist vielleicht nicht schlimm, fällt halt auf. Aber mal nur so, nur für den Notfall: Wo sind eigentlich die Kratzpullis?

KLAUS RAAB, Jahrgang 1978, taz-Medienredakteur, hält auf smarten Chic. Er möchte nicht als nonkonform gelten