: Adornos Geheimnis
Kritisches Bewusstsein nach dem Geschmack Adornos war ’68 modisch. Auch das musste scheitern!
VON MICHAEL RUTSCHKY
Was man erwarb in dieser Schule, das stand fest, war kritisches Bewusstsein. Die hübsche blonde B. – immer wieder erzähle ich es – wurde, es waren die Sechzigerjahre, von dem schon leicht abgebrühten Assistenten befragt, auf der Straßenbahnfahrt in die Frankfurter Innenstadt, ins Kino, warum sie Soziologie als Fach gewählt habe?
Um die Gesellschaft zu durchschauen!, antwortete die B. strahlend. Den Begriff der Gesellschaft selbst entwickelte die Schule als einen durch und durch kritischen. Gesellschaft, das war nicht, womit heute jeder Leserbriefschreiber und Talkshowgast sich auskennt, „unsere Gesellschaft“, die hier die kleinen Kinder und dort die Bildung und stets die Gerechtigkeit im Auge behalten sollte, nein, Gesellschaft, darunter stellte man sich eine Art Monster vor, das dich von innen ebenso wie von außen auffrisst. Prof. Freud respektive seine Schülerin Melanie Klein hätten im Hintergrund wohl die präödipale Mutter erkannt, mit dem der Säugling in ebenso nährender wie vergiftender Symbiose lebt und von der sich abzutrennen ganz unmöglich ist.
„Heute nähert sich“, so ein Grundsatzartikel von 1956, „insbesondere auch durch die Fortschritte der Verkehrstechnik und die technologisch absehbare Dezentralisierung der Industrie, die Vergesellschaftung der Menschheit einem Maximum: Was noch draußen scheint, verdankt seine Exterritorialität mehr der Duldung oder der planenden Absicht, als dass ein Exotisches noch wahrhaft unangefochten existierte.“ Doch wirkte der innere Fraß noch bedrohlicher: „In jedem Einzelnen wird immer weniger Unerfasstes, von der sozialen Kontrolle Unabhängiges geduldet, und es ist fraglich, wie weit es sich überhaupt noch zu bilden vermag.“ Dagegen musste man doch Widerstand leisten, gegen diese innerliche Kolonisierung und Unterwerfung. Der allgegenwärtigen Manipulation durch die Kulturindustrie in konkreten Analysen die Macht der bestimmten Negation entgegensetzend, hielt man wenigstens das Wissen von Einzelnen am Leben, dass dies nicht die wirkliche Wirklichkeit ist.
Warum diese Diagnose einer Vergesellschaftung, die das Individuum und die Gesellschaft unwiderstehlich vernichtet, für das Lebensgefühl der Sechziger eine so überwältigende Plausibilität gewinnen konnte, bleibt rätselhaft. Das Lebensgefühl jedenfalls inspirierte ’68 und findet sich noch in den absurden Weiterungen der K-Gruppen und der RAF.
Aber bleiben wir beim Novizen. Das kritische Bewusstsein mittels bestimmter Negation zu erwerben, gelang rasch. Die Kulturindustrie der Bundesrepublik rekrutierte ihre Mitarbeiter erst selten aus der Frankfurter Schule, wir waren von alten Nazis und wiedergeborenen Christen umstellt. Wer Robert Gernhardts Texte für die avantgardistische Zeitschrift Pardon liest, gewinnt eine lebendige Anschauung. Die Kritische Theorie inspirierte unmittelbar die journalistische Praxis, und der jugendliche Gesellschaftskritiker vergnügte sich sommers im Freibad, indem er der Liebsten aus Pardon vorlas. Komm, lass uns die Gesellschaft durchschauen.
Doch blieb dem Novizen die Ahnung, dass er Theodor W. Adorno nur oberflächlich folgte. Die Seminare über Kant und Hegel lehrten, dass es um mehr ging als Fernsehen als Ideologie oder Sexualtabus heute oder die Tabus über dem Lehrberuf. Die Gesellschaft als Schuld- und Verblendungszusammenhang wucherte in Dimensionen hinein, die dem Lachen im Freibad verschlossen blieben. Dabei ging es vor allem um Kunst.
Der Novize hielt Kontakt zu ihren neuesten Erscheinungen. Dass die abstrakte Malerei und die reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen von Nazikonvertiten als nihilistisch und gottlos beklagt wurde, kam ihm gerade recht. Abstrakte Maler und reimlose Lyriker gehörten Anfang der Sechziger zweifelsfrei zu den Good Guys. Der Novize besuchte die Poetikvorlesungen, die in diesem Semester Helmut Heißenbüttel an der Universität hielt; er besaß Erstausgaben von Paul Celans Gedichtbüchern; schon als Schüler besichtigte er in Kassel die documenta. Moderne Kunst, so verstand er Adorno, erzeugt das kritische Bewusstsein, mittels dessen der Einzelne dem Fraß der Vergesellschaftung widersteht, unmittelbar. Allerdings passten Adornos Lehren so gar nicht mit dem Kino zusammen, das der Novize und seinesgleichen mehrfach in der Woche mit einer Dringlichkeit aufsuchten, als stünde Erlösung an.
Wenn Adorno über Kunst als Transzendenz schrieb oder sprach, dann ging es vor allem um Musik. Natürlich nicht um die damals so genannte Beatmusik, die dem Novizen unmittelbar als die seine erschien, während Adorno mit seiner gleichförmig präzisen Stimme in der Vorlesung gestern über das Geblöke Heideggers und das der Beatles, die das Immergleiche seien, doziert hatte. Was er über den Jazz schrieb, übergingen Novizen, die was davon verstanden, stillschweigend und verdrückten sich nächtens in den Jazzkeller, den man in der Kleinen Bockenheimer Straße fand.
Kunst, darunter verstand Adorno vor allem die Musik Schönbergs, Alban Bergs, Anton von Weberns, Musik, die er selber zu schreiben versuchte. Eine in sich unmögliche Musik an der Grenze zum Schweigen; denn in der Tradition des Komponierens und seiner Regeln wirkte ja gleichfalls – ich kürze ab – die falsche, die negative Vergesellschaftung sich aus. In der Literatur kam Samuel Beckett einem Schreiben, das Schweigen ist, am nächsten. Und die Novizen, die sich in der Gewerkschaftsarbeit oder – was damals ultrahip war – in der politischen Jugendbildung engagierten, verdächtigten Adornos kleinen Kreis der Esoterik und des Hermetismus. Während unsereins zu verstehen und in kritisches Bewusstsein zu transformieren versuchte, was Adorno in seinen Vorlesungen und Seminaren über Kant und Hegel und den Begriff der Gesellschaft ausführte, teilte er mit seinem kleinen Kreis beim Musikhören die Wahrheit unmittelbar.
Erst Jahre später habe ich, Pierre Bourdieus unwiderstehliche Beschreibungen des Klassenkampfes in der Kultur studierend, hier Aufklärung erhalten. Die Musik von Webern und Zemlinsky und Adorno mag überirdisch schön sein, in dem Augenblick, da sie den Innenraum des Individuums verlässt und in die gesellschaftliche Kommunikation eintritt, nimmt sie teil an den Distinktionskämpfen, in denen die Kulturgüter zum Einsatz kommen. Wenn Adornos kleiner Kreis, zu dem unsereins nie gehören würde, in hermetischen Gesprächen den wahrhaft avancierten Kunstwerken ihren Wahrheitsgehalt ablauschte, dann agierten sie keineswegs als Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, als geistiges Politbüro. Soziologisch gesehen prätendierten sie bloß eine Distinktion jenseits der Distinktionen, was persönlich Freude machen kann, aber zur Befreiung der Menschheit nichts beiträgt.
Schaut man sich etwa die „Einleitung in die Musiksoziologie“ (1962) an, so kommt man bald darauf, dass im Grunde kein vergesellschaftetes Individuum Musik, die dem Begriff entspricht, adäquat zu hören vermag. Angemessen Musik zu hören, das bewirkt eine Individuation, die das Individuum dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang überhaupt entreißt. Aber der ist universal. Man hat Adornos „Ästhetische Theorie“ (1970) eine negative Theologie der Kunst genannt. Die höchste Wahrheit ist unerreichbar. Aber wer sich ihr nähert, wird der höchsten Macht inne.
Kein Wunder, dass die Revolte sich ohne Hemmung der Beatmusik verschrieb. Und besinnungslos oft ins Kino ging.
MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, Publizist und taz-Autor, ist Achtundsechziger durch und durch. Eine Veröffentlichung, passend zum Thema: „Wie wir Amerikaner wurden“, Ullstein, Berlin 2004