: Der Aufstand ohne Lärm
Die Studentenbewegung auf Mission: Die Proleten mussten für den Sozialismus gewonnen werden. Die aber fanden das doof!
VON JAN FEDDERSEN
Die bessere deutsche Welt wurde nicht ’68 erfunden, und ihre Pateneltern hießen auch nicht Daniel Cohn-Bendit, Uschi Obermaier, Rudi Dutschke oder Ulrike Meinhof. Dass dieses Jahr – im Stern und im Spiegel schon seit Wochen – so obsessiv erinnert wird, hat einen Grund, der in Klassenverhältnissen, in solchen des öffentlichen Sprechens und Äußerns verankert liegt. Jene, die damals rebellierten, waren die neuen Eliten der jungen Bundesrepublik in der Ausbildung. Zutreffend ist jedoch, dass das, was ohnehin brodelte, am Gären war, und was wie ein Magmastrom unter einem nicht erloschenen Vulkan zum Fließen kommen wollte, an den Universitäten am lautstärksten zum Ausdruck kam. Die Illustrierten nahmen das gern wahr: Das war der Stoff, aus dem ihre Träume waren.
Problematisch ist nur, dass in einer zeitgenössischen Vorstellung von dem, was damals war, nie jene mitgewürdigt werden, die auf ihre Weise, ohne akademisches Feuerwerk, das Ihre taten, um sich Luft zu verschaffen. Eine Geschichte von ’68, die nur aus der Perspektive der Hörbarkeit verfasst wird, ging immer fehl. Wer, wenn nicht Studenten, weiß sich zu artikulieren?
Ein Blickwinkel aus der Lage von Proleten, den ersten Gastarbeitern sähe anders aus. Ihnen aber war das missionarische Tun gewidmet, mit der die akademischen Kader sich den Lohnabhängigen näherten. Als Beispiel mag der als modern geltende Fernsehregisseur Egon Monk genommen werden. Der hatte für den NDR 1964 Christian Geisslers Geschichte vom „Wilhelmsburger Freitag“ gedreht. Im Mittelpunkt steht ein junger Lkw-Fahrer, der in einer Neubausiedlung einer Vorstadt Hamburgs mit seiner Frau lebt und unter irgendwas zu leiden scheint.
Die Geschichte legt nahe, dass dieser Mann mit Langeweile hadert, mit dem Leben nichts anzufangen weiß, dass einer wie er – pars pro toto – wie unter einer Glocke quasi vegetiert. Bereits das Buch – wie alle Schriften von ihm – des inzwischen weitgehend vergessenen Autors Christian Geissler verströmen diese Voraussetzung: Dass es den Proleten schlecht geht, ausgebrannt, müde, beziehungsunfähig, liebestot an den Verhältnissen geworden.
So war die Fantasie von den allermeisten intellektuellen Kadern von ’68: Die Arbeiter wollen bestimmt den Sozialismus, auch wenn sie es noch nicht wissen; die wollen alles anders, vor allem ihr persönliches Leben, weil finstere Mächte sie drücken und deckeln, so dass sie keinen Raum haben, um sich Ideen vom Utopischen zu widmen.
Dass mit diesem Blick die Fantasie von der proletarischen Erhebung nur enttäuscht werden konnte, versteht sich. Weshalb hätten die Proleten auch ausgerechnet in den für sie günstigen Sechzigerjahren mit den Schnöseln von der Besserwisserbank sich gemeinmachen sollen? Die Bildungsreformen in den Jahren vor ’68 machten Abitur, Hochschulen und Doktorgrade auch für jene möglich, die nicht „von Stand waren“, wie es in Norddeutschland heißt. Eine Tochter eines Drehers konnte Lehrerin werden, der Sohn eines Müllfahrers Ingenieur oder Soziologe. Die Gesellschaft, die von den universitären Kadern der Studentenbewegung entfremdet geheißen wurde, war doch weitgehend gut zu ihren produktiv-proletarischen Angehörigen.
Was aber die sittlich-moralischen Lockerungen betrifft, von denen die schriftlichen Zeugnisse von ’68 so sehr Zeugnis ablegen, die mussten nicht erst die Studenten kritisieren, auf dass sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Frauen wussten das allenthalben, Männer auch, dass es nicht schön ist, wenn man heiraten muss, da ein Kind unterwegs ist; nichteheliche Kinder wurden schließlich wie eine Schande behandelt. Eine Schwangerschaft abzubrechen war an eine Menge Geld geknüpft, an Heimlichtuerei und eine erfolgreiche Recherche. Ärzte zu finden, die zu einer Abtreibung bereit waren, gab es nur hinter vorgehaltenen Händen – und manche von ihnen mussten mit hohen Strafen büßen, wenn ihr illegales Tun bekannt wurde. Und wie äußerte neulich Oswalt Kolle, Chefaufklärer der Republik? Das mit der Sexrevolte ’68 sei eine Erfindung von Pfarrerskindern aus Deutsch-Südwest, die endlich mal ohne Schuldgefühl ficken wollten, ohne gleich die Ehe zu versprechen.
Was Lohnabhängige wollten, war jedenfalls kein Diktat der Studenten, kein Sozialismus, ostzonenmäßig schon gar keinen, sondern ein Leben mit Konsumchancen, mit steigenden Löhnen, Reisemöglichkeiten, mit Wohnungen, die neu sind, und mit Verhältnissen, die allen am liebsten waren, wenn sie ohne große Erzählungen wie Sozialismus oder Nationalsozialismus auskommen. Da lohnte selbst für den gewerkschaftlich orientierten Proleten der Blick nach Amerika eher: Die hatten Komfort, klasse Autos, super Einrichtungen, Fernseher in Farbe.
Man hatte genug von tausendjährigen Reichen, von eschatalogischen Entwürfen, von Heil und Hoch, vom Paradiesglauben im Politischen oder von Fahnenschwingerei. Die Kritik von ’68 am Konsumismus, die ja nicht erst die Grünen Anfang der Achtziger erfunden haben, stand in den Geschäftsbedingungen dieser Bewegung und sie klang nicht gut. Der Hochofenarbeiter, der im Ruhrpott endlich genügend Geld hatte, um seiner Familie und sich den ersten Spanienurlaub – Camping zunächst, klar – zu finanzieren, bedankte sich unherzlich bei den Studenten, die Ende der Sechzigerjahre als Aufklärungskader in die Betriebe sickerten und sich dort schnell wieder verabschiedeten, weil auf solche Missionare niemand gewartet hatte. Den einen ging es um Entfremdung und Unterdrückung, die anderen wollten Kohle verdienen für die erste Waschmaschine, das Auto, einen Farbfernseher, eine Wohnung mit Kinderzimmer, für Dinge, die das Leben, was denn sonst, bequemer machen.
Mit guten Hoffnungen, in den Jahren des Wirtschaftswunders der Fünfziger konnte diese Erfahrung gemacht werden, erwartete das Gros der Deutschen die Zukunft. Da störten die Studenten nur, oder wie es einer sagte, „die sprachen nicht die gleiche Sprache wie wir“. Sie von Kapitalismus als Hölle, die anderen von von Familie und Ferien. In Egon Monks Film war insofern nichts authentisch, auch wenn er so tat. Er konnte den Arbeiter nicht anders deuten denn als unbewusstes, seinem Schicksal ergebenes Subjekt, das der Erweckung bedarf. Im falschen Leben konnte es, hatte das nicht Theodor W. Adorno so dekliniert?, kein richtiges geben.
In jenen Jahren ist auch die heute noch gängige Perspektive von mittelschichtigen Linken auf Armut geboren worden. Elend, hieß es früher, sei überhaupt jeder dran, der lohnabhängig beschäftigt ist. Arm sind alle, wenn nicht alles Geld gerecht verteilt ist. In Wahrheit bemisst jeder sein oder ihr Gefühl zum Leben daran, ob es besser, sicherer, materiell auskömmlicher läuft als bei den eigenen Vorfahren. Und bei den Deutschen lief fast alles günstiger. Die Bildungsreformen haben jede Menge Aufstiegshunger befördert, und das hat den alten Bildungsbürgern natürlich auch nicht gefallen – dass da eine Meute ihnen auf der Spur ist, mit ihnen konkurriert.
Alle Reformen, die in den Sechzigern vor ’68, meist über die Sozialdemokratie und ihre Apparate, angemahnt wurden, sind in den Siebzigern realisiert worden. „Wir sind fast erstickt.“ „Man brauchte so dringend Luft.“ „Nach dem Krieg schien alles verloren und war es doch nicht.“ „Wir hatten Schwein und wollten leben.“: Sätze wie diese stammen von den sogenannten Kriegskindern der Geburtsjahrgänge ab 1933. Ihre Erinnerungen – nur schwach vorhanden.
’68 markiert den Wechsel der Selbstwahrnehmung von den geschundenen Kriegsopfern ohne Fähigkeit zu trauern zum anything goes der libertären Art. Mit dem Freiheits- und Gleichheitsversprechen des seit 1949 gültigen Grundgesetzes war mehr im Gange, als die Studentenbewegung ahnte; es ging immer um mehr Demokratie, nicht um Sozialismus. Schritt für Schritt, gegen den Mief der christianisierenden Fünfzigerjahre. Ohne die Proleten wäre ’68 ein Rebelliönchen von aufstrebenden Akademikern geblieben. Ihre Geschichten gibt es nur rar, sie zu bergen, wäre wertvoller als alle Nostalgie in Sachen ’68. Christian Geissler schrieb einen Roman, von kommunistischer Traumseligkeit durchzogen, der hieß: „Wird Zeit, dass wir leben“. Hatten die meisten doch angefangen, vor ’68
JAN FEDDERSEN, 50, fand ’72 besser