Mehr Sex, Selbst & Drogen

Anspruch einer umstürzlerischen Zeit und ihre Nachwirkungen bis heute: Was sich an Lebensstilen mit dem Jahr 1968 änderte

VON BARBARA DRIBBUSCH

ASex & Körper

1. Die Idee. Wer viel Sex hat, ist revolutionär und heldenhaft. Zu dieser Idee gehört auch das Bild der halbnackten Uschi Obermeier mit ebenso langhaarigen, nackten und blassen Männern. Die Einführung der Pille in den frühen Sechzigern hatte die pharmazeutische Grundlage für die Freizügigkeit geliefert; die Angst vor ungewollter Schwangerschaft und „Mussehe“ waren verschwunden.

Ideologische Stütze erhielten junge Männer, die viel Sex haben wollten, durch die Wiederauflage der Schriften Wilhelm Reichs im Jahre 1970, die viel Sex inklusive Orgasmus zu einer Therapie gegen bürgerliche Verklemmtheit hochjubelten. Frauen, bei denen beim Geschlechtsverkehr der vaginale Höhepunkt auf sich warten ließ, bekamen 1975 Hilfe durch Alice Schwarzer und ihr Werk „Der kleine Unterschied“. Darin weist die spätere Starfeministin darauf hin, dass sich jeder Orgasmus der Frau letztlich auf die Klitoris zurückführen ließ. Fortan mussten sich die Männer mehr Mühe geben.

2. Die größte Errungenschaft

Viel Sex mit wechselnden PartnerInnen ist okay, wenn man will.

3. Der größte Irrtum

Dass viel Vögeln automatisch viel Glück bedeutet. Es gibt keinen einzigen empirischen Beweis für diese These. Auch falsch: Dass sich Sexuelles frei von Machtbeziehungen gestalten lässt. Und dass die Eifersucht verschwindet, wenn man nur lange genug darüber redet.

4. Und heute?

Als Spätfolgen der sexuellen Revolution entwickelten sich ein gnadenloser Körperchauvinismus und Verjüngungszwang. Dass mit der sexuellen Freiheit neue Unfreiheiten entstehen, hat der französische Autor Michel Houellebecq in seinem Bestseller „Ausweitung der Kampfzone“ (auf Deutsch im Jahre 2000 erschienen) beschrieben. Wer sich schwertut, viele Sexpartner zu finden, gilt demnach als Loser.

Aber Teenager von heute verweigern sich dem Druck: Scham ist wieder okay. Junge Leute ziehen sich in romantisch geschützte Zweierbeziehungen zurück und geben in Umfragen an, wie wichtig die Treue ihnen doch sei. Die Alten wiederum, stolz auf ihre sexuelle Biografie, können das Absinken des eigenen Hormonspiegels nur schwer akzeptieren. Manche greifen zu Viagra. Viele Singles haben aber keine Lust mehr auf die bange Frage: „Bin ich noch schön genug für den Partnerschaftsmarkt?“ Die Zeit ist gekommen für eine neue Revolution des Sexuellen.

B Klamotten

1. Die Idee. Wer sich gebrauchte Armeeklamotten oder wallende Hippiekleider anzieht, zeigt sich frei von bürgerlichem Statusdenken und beweist Sinnlichkeit. Nur Loser und Klemmis tragen Anzug, knielange Röcke und dunkel umrandete Krankenkassenbrille.

Die Klamottenrevolte, die Ende der Sechziger begann, hatte tatsächlich etwas Demokratisches: Die Stücke waren billig, weil oft second-hand oder selbst gemacht. Im Armylook trug man gebrauchte Bundeswehrparkas und US-Armeejacken, dazu Jeans und Armee- oder Wildlederstiefel, mitunter mit hässlichen Fransen verziert. Der Stil wurde zu einer Art Berufskleidung für Vieldemonstranten.

Fast zeitgleich verbreitete sich der Hippielook mit selbst gebatikten bunten Röcken, flattrigen indischen Hemden und muffeligen Schaffelljacken. Die Hippietextilien vermittelten ein Flair von Fernostreisen und wärmeren Temperaturen. Damit waren die schlechten Schnitte fürs Erste entschuldigt.

2. Die größte Errungenschaft

Dass Frauen heute die gleichen Klamotten wie Männer tragen dürfen, wenn sie wollen. Und dass auch das Palästinensertuch und die Krankenkassenbrille ihr „Retro“ bekommen, wenn man nur lange genug darauf wartet.

3. Der größte Irrtum

Dass Kleidung auf Dauer demokratisiert werden kann. Sie dient immer dazu, den Wunsch nach einem höheren Status, nach mehr Vitalität oder Geld zu markieren. Darunter leiden Hartz-IV-Familien, weil sie ihrem Nachwuchs keine Markenklamotten kaufen können.

4. Und heute?

Jeder neue Stil mit „Street Credibility“ wird von Trendscouts umgehend den Markenfirmen gemeldet, die wiederum ihre hohen Werbeausgaben durch noch höhere Preise einspielen. Keine Randgruppe ist zu abgelegen, um nicht als Stilgeber zu dienen. Aus den Gefängnissen, wo Inhaftierte aus Sicherheitsgründen keine Gürtel tragen, kam etwa der Hose-hängt-am-Arsch-Look. Der geht natürlich auch teuer.

Doch es gibt auch demokratische Gegenbewegungen zum Markenterror von Nike und Picaldi. Wer sich als souveräner Mitkämpfer der No-Logo-Bewegung präsentieren will, kombiniert die Steppjacke von Tchibo mit der markenlosen 20-Euro-Workerjeans aus dem Kaufhaus. Jüngere grenzen sich von den Älteren ohnehin einfach ab: durch die bauchbetonte Mode. Wie viel Fett sich über der Hüfthose wölbt, verrät umgehend die Generationenzugehörigkeit. Der britische Guardian beschäftigt sich inzwischen seitenlang mit der Frage, ob eine Fünfzigerin noch eine schwarze Lederjacke tragen darf. Die Stilfrage ist heute vor allem für die Älteren heikel.

C Drogen

1. Die Idee. Wer halluzinogene Drogen raucht oder einwirft, um die Chemie im Hirn zu verändern, streift Enge im Denken ab, löst sich vom materialistischen Streben und dringt in spirituelle Bewusstseinsdimensionen vor. Diese Fantasie fand sich schon vor 1968. Bereits 1954 schilderte Aldous Huxley in „Die Pforten der Wahrnehmung“ seine verklärenden Erfahrungen mit Meskalin. Zwischen 1960 und 1962 experimentierte der US-Amerikaner Timothy Leary mit psilocybinhaltigen Pilzen im umstrittenen „Harvard Psilocybin Project“. 1968 schließlich veröffentlichte der US-amerikanische Anthropologe Carlos Castaneda „Die Lehren des Don Juan“, eine fiktive Geschichte über die spirituelle Unterweisung durch einen Indianer unter Zuhilfenahme halluzinogener Pilze, die das Ego ausschalten sollen. Haschisch und Marihuana galten als Substanzen, die den Geist friedlich stimmen. Und friedliebend zu sein, war als revolutionäres Synonym für „schlaff“ beliebt.

2. Die größte Errungenschaft

Es muss nicht unbedingt Teufelswerk sein, wenn man mit Chemie auf Hirnfunktionen einwirkt.

3. Der größte Irrtum

Dass man durch Kiffen oder LSD-Einwerfen automatisch zum besseren Menschen wird und sich nicht zum Arschloch entwickelt. Falsch ist auch, dass halluzinogene Drogen keine Psychosen auslösen können, die nicht auch ohnehin zum Ausbruch gekommen wären.

4. Und heute?

Gibt es so viele Drogen wie noch nie. Auf Krankenschein. In der Psychiatrie entwickeln Forscher immer neue Medikamente, um in Hirnvorgänge einzugreifen und psychotisch und depressiv Erkrankte behandeln zu können. Die Verordnungszahlen von Serotoninwiederaufnahmehemmern und anderen Antidepressiva steigen rasant. Ziel ist jedoch, Menschen wieder realitätstauglich zu machen und nicht in spirituelle Höhen zu entführen. Was Psychopharmaka leisten können und was nicht, das ist die neue Drogenfrage.

D Aussteigen durch Reisen

1. Die Idee. Wer sich mit wenig Geld aufmacht in fernöstliche Kulturen, streift das bürgerliche Ich ab und verwandelt sich in einen geläuterten, dem Materiellen abholden Menschen. Hermann Hesses „Siddharta. Eine indische Dichtung“, bereits 1922 veröffentlicht und in den Sechziger- bis Siebzigerjahren in Deutschland inbrünstig gelesen, regte die „indische Welle“ an. Die Beatles weilten im Jahre 1968 mehrere Wochen im Ashram von Maharishi Mahesh Yogi im indischen Rishikesh und übten sich in Techniken der Transzendentalen Meditation. Fotos der Musiker im Hippielook mit dem langhaarigen Guru gingen um die Welt und prägten die Idee der „spirituellen Reise“.

Damit stand das Rezept für die Aussteigerreise fest: Sie dauerte möglichst mehrere Monate, führte zumeist in ärmere Regionen, häufig mit asiatischer Kultur. Man trampte einen Teil der Strecke, arbeitete aber nie auf dem Trip, jedenfalls nicht für Geld.

2. Die größte Errungenschaft

Reisen ist demokratischer geworden. Man kommt mit vergleichsweise wenig Geld schon ziemlich weit herum. Der Tourismus baute die Ökonomie in den Reiseländern mit auf und eröffnet der dort lebenden armen Bevölkerung, die aus Geldmangel nicht reisen kann, ethnologische Einblicke in westliche Verhaltensweisen.

3. Der größte Irrtum

Dass die Menschen aus ärmeren Regionen die tollere Kultur haben, weil sie „durch das Geld noch nicht so versaut sind“. Und dass es klasse ist, in ärmeren Ländern die Preise gnadenlos auf einheimisches Niveau herunterhandeln zu wollen. Der Bestsellerautor Khaled Hosseini beschreibt in „Der Drachenläufer“ eindrucksvoll, wie ein kleiner afghanischer Junge die Hippies wahrnahm, die sich in den Siebzigern in Kabul niederließen. Er konnte nicht begreifen, wie ein Mensch den ganzen Tag nichts tun kann; für ihn verkörperten die Hippies eine Art pennerhafte Heimatlosigkeit.

4. Und heute?

Reist der junge Mensch nicht mehr in ferne Gefilde, um aus der westlichen Gesellschaft auszusteigen, sondern um hinterher noch höher einzusteigen. Mehrmonatige Auslandsaufenthalte für Ausbildung, Praktika oder Freiwilligendienste sind angesagt, um den Lebenslauf karrierefördernd zu schmücken. Der spirituelle Tourismus im Himalaja oder indische Ayurveda-Resorts sind heute eher etwas für die Älteren in der Midlife Crisis. Jüngere können zudem billig die eigene spirituelle Heimat wiederentdecken: Reisen zum Selbst lassen sich heute preiswert und ökologisch auf Pilgerwegen in Europa machen.

BARBARA DRIBBUSCH, Jahrgang 1956, taz-Redakteurin, lief mit fünfzehn auf ihrer ersten Demo mit, geriet danach in die Hippiewelle, vertrug Haschisch nie und besaß auch keinen Flokati