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Archiv-Artikel

Meditationen über Wandel und Bestand„Douro, faina fluvial“ (1931)

ABSCHIEDSGRÜSSE Vergangene Woche starb Manoel de Oliveira im Alter von 106 Jahren. taz-Autoren erinnern an ihre Lieblingsfilme im reichen Werk des portugiesischen Regisseurs

Ein Licht geht an, ein Werk beginnt, etwas wird sichtbar

Am Anfang der Filmografie Manoel de Oliveiras steht eine zunächst rätselhafte Dunkelheit, gefolgt von einem Moment der Erleuchtung. Ein Licht geht an, ein Werk beginnt, etwas wird scharf und schneidend sichtbar. Dieses initiale Bild, die Großaufnahme einer Leuchtturmlampe in Betrieb, stammt aus „Douro, faina fluvial“, Oliveiras erstem Film, gedreht 1931 in der Hafenstadt Porto und entlang des Douro, der hier ins Meer mündet.

Ein glänzendes Montagewerk, das menschliche und technische Dynamiken über fluide Bewegungsanschlüsse verschaltet.Oft ist „Douro, faina fluvial“ mit Walter Ruttmanns Großstadtsinfonie verglichen worden, aber es sind doch andere Synthesen, aus denen hier ein rein filmischer Begriff von Modernität gewonnen wird. Oliveiras Montage trägt zwar einen technischen Rhythmus an den elektrifizierten Alltag des Handelns, Reisens, Lebens heran, lässt aber zugleich Raum für Digression und Leerlauf, für autonome Widerstände, die sich nicht auf eine stolz in die Zukunft zeigende Fortschrittslinie bringen lassen. Der Gleichlauf des Flusses, die Sturheit der Ochsen, die Marktroutinen der Fischverkäuferinnen sind dem Film kein grafisches Material, das in eine von vorherein feststehende abstrakte Partitur einzutragen wäre. Gefilmt mit einer frühen 35mm-Kompaktkamera, Emanuel Goldbergs Kinamo, die später unter anderem von Joris Ivens eingesetzt wurde, leuchtet in Oliveiras Experimentalästhetik immer auch die Modernität einer zuweilen ausdrücklich inszenierten dokumentarischen Skizze. SIMON ROTHÖHLER

„Acto da primavera“ (1963)

Bei Arbeiten an einem anderen Film stößt Manoel de Oliveira Anfang der sechziger Jahre auf ein abgelegenes Dorf mit Namen Curalha. Er ist sehr verblüfft. Alljährlich führen die Bewohner die Passion Christi auf, nach einem Versdrama aus dem 17. Jahrhundert. Nicht für Publikum, sondern für sich. Oliveira ist so beeindruckt, dass er sie bittet, das Stück für seine Kamera zu spielen. Es gibt keine Bühne, die Szenen spielen verstreut über Landschaft und Dorf. Römer in Uniformen rennen über staubige Feldwege. Die Leute sprechen den Text in alles andere als einheitlichem, aber durchweg eigentümlichem Singsang. Sie gestikulieren, sie heben die Arme, einer springt mehrmals in die Höhe. Das gehorcht keinen Regeln der Kunst, aber alle wissen ganz genau, was sie tun.

Zu Beginn zeigt Oliveira die Gegenwart, einer liest aus der Zeitung vor, man sieht ein Auto, Passanten, sogar die Kamera. Dann wird „Acto da primavera“ zum Bibelfilm, wenngleich als einzigartiger Gegenentwurf zum Historienschinken. Gegen Ende gibt es zur Auferstehung eine überraschende Wendung. In Schwarz-Weiß werden Jesus Christus und Szenen des Kriegs in Vietnam, Bilder vom Atombombenabwurf gegeneinander geschnitten. Das klingt, wenn man es schreibt, wenig plausibel. Es muss der Anrufungscharakter des Films sein, der dafür sorgt, dass man das dennoch völlig einleuchtend findet. EKKEHARD KNÖRER

„Benilde ou a Virgem Mãe“ (1975)

Es mag eine Falle der Erinnerung sein, aber den Anfang von Manoel de Oliveiras „Benilde ou a Virgem Mãe“ habe ich immer mit Stanley Kubricks „Shining“ verknüpft. Das hat mit einem Einzelbild zu tun, einem Bild an der Wand. Bei „Shining“ hängt es am Ende in der Hall of Fame des Hotels; Jack Nicholson ist darauf zu sehen, und zwar so, als wäre er schon viel früher einmal an diesem Ort gewesen. In „Benilde“ hingegen führt eine lange Fahrt durch Theaterkulissen gleich zu Beginn in eine düstere Stube, zum Bild eines Kornfelds, das ungefähr in dem Moment in Bewegung gerät, als es leinwandfüllend wird.

In diesem grandiosen Filmanfang, der auch an Michael Snows „Wavelength“ denken lässt, steckt Oliveiras ganzes Kino. Zuerst macht er die Konstruiertheit, das Theaterhafte des Settings sichtbar, doch schließlich landet er dort, wo nur der Film hingelangen kann: zur Schwelle eines fantastischen Moments. Es ist die einzige Außenaufnahme in diesem Kammerspiel, das auf einem Stück von Oliveiras Dramatiker-Freund José Régio basiert. Das Außen bleibt in diesem Film über eine 18 Jahre alte Jungfrau, die davon überzeugt ist, Gottes Kind in sich zu tragen, allerdings stets hörbar: Der Wind heult unheimlich durch den Kamin, auch das Kreischen eines Geistesgestörten fährt immer wieder durch Mark und Bein. Heute würde man dazu Sounddesign sagen: Oliveira schafft ein Ambiente von Tönen und Geräuschen, das die ungläubigen Gesichter seiner Figuren wie ein Hauch von Wahnsinn umspielt.

„Benilde“ wurde immer wieder mit Filmen des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer verglichen, aber er hat auch etwas von dem Überschwang der Poe-Filme Roger Cormans. Der Film stammt von 1975, dem Jahr nach der Nelkenrevolution, als die Zukunft Portugals gerade im Ungewissen lag.

DOMINIK KAMALZADEH

„Je rentre à la maison“ (2001)

Die Kamera schaut sich an: einen Herrenfuß, ein Herrenbein, ein Stück Fußboden, Stuhl- und Tischbeine, im Hintergrund drei weitere Herrenbeine. Der Schuh am Fuß ist ein besonders schönes Exemplar, das Leder hat die Farbe von Cognac, die Form ist klassisch, ein Budapester. Der Fuß streckt und beugt und dreht sich zur Seite, während oberhalb des Bildrandes die Herren, die zu den Beinen gehören, miteinander reden. Der eine möchte über den Verlust geliebter Menschen sprechen, der andere, der, der diesen Verlust erlebt hat, lieber über seine neuen Schuhe.

„Je rentre à la maison“ hat viele Szenen, in denen etwas geschieht, ohne dass man ganz dabei wäre, Szenen, in denen Oliveira mit der Aufmerksamkeit und dem Objekt der Aufmerksamkeit Schabernack treibt, indem er beides an Orte verschiebt, an denen man es normalerweise nicht findet. Etwa wenn die Hauptfigur, ein in die Jahre gekommener Theaterschauspieler, dargestellt vom in die Jahre gekommenen Michel Piccoli, vor dem Schaufenster einer Galerie innehält und, während er ein Bild betrachtet, von Fans um Autogramme gebeten wird. Die Kamera schaut aus dem Inneren der Galerie durch das Schaufenster auf die Figuren, man sieht ihre Mundbewegungen und hört kein Wort. Dafür erklingt, als der Schauspieler aufbricht, aus dem Off eine Musik, zu der die Tanzenden auf dem Bild sich drehen könnten. Lauter sanfte Dekonstruktionen, deren Verschmitztheit nicht vergessen lässt, was es bedeutet, den eigenen Tod vorauszuahnen. CRISTINA NORD

„Chafariz das Virtudes“ (2014)

Oft sind Filmfestival-Trailer nur Werbefilmchen für die dahinter stehenden Veranstaltungen. Manchmal aber auch mehr. Seit 1995 beauftragt die Wiener Viennale Filmkünstler (zweimal auch eine Regisseurin) mit der Produktion solcher Miniaturen. Stan Brakhage, Jean-Luc Godard und Agnès Varda waren schon dabei. Und letztes Jahr endlich auch der große portugiesische Cineast, dessen Filme auf dem Festival regelmäßig zu Gast waren.

„Chafariz das Virtudes“ besteht aus einer unbewegten Einstellung auf den gleichnamigen barocken Wandbrunnen in Oliveiras Heimatstadt Porto. Das Motiv hat er aus einer Szene seines letzten Films „O Velho do Restelo“ ausgeklammert und hier zum steinernen Hauptdarsteller gemacht. Zu sehen sind zwei symmetrisch angeordnete Steinfratzen, die mit ihren spitzen Ohren und Bartbüscheln eher wie faunische Schwerenöter denn Tugendbolde aussehen. Aus ihren Mündern sprudelt im sanften Bogen Wasser, dessen Gluckern die Tonspur bildet. Bevor man sich richtig eingrooven kann, kommt schon der Abspann dieser eleganten Meditation über das Kommen und Verschwinden, den Wandel und die Konstanz: Fußnote im Werk eines Meisters, assoziationsreich anrührender Abschiedsgruß eines Mannes, dessen für uns lange Lebensspanne kosmisch nur eine Sekunde zählt. Der Brunnen der Tugenden wurde, das kann man im Film nicht sehen, eigens für die Dreharbeiten zu „O Velho do Restelo“ wieder zum Sprudeln gebracht. SILVIA HALLENSLEBEN

„Belle toujours“ (2006)

2006 präsentierte der damals 98 Jahre alte Oliveira auf dem Filmfestival von Venedig in gewohnter Bescheidenheit, also völlig ohne Medienrummel oder anderweitiges Aufheben, seinen Film „Belle toujours“. Es war, als ob der Regiemeister jedem seiner Zuschauer persönlich mit dem Auge zuzwinkerte. Der Film selbst ist Anspielung und Spiel in einem. Wie der Name in digital-age-kompatibler Titelpoesie andeutet, handelt es sich um ein Sequel, und zwar zu einem Venedigpreisträgerfilm von 1967, Luis Buñuels „Belle de Jour“. Und das auf so freche, knappe und doch melancholische Weise, wie es wohl nur die Gnade der frühen Geburt erlaubt.

Seit den Ereignissen in „Belle de Jour“ sind ungefähr vierzig Jahre vergangen. Michel Piccoli nimmt seine Rolle als Henri erneut auf und verfolgt Bulle Ogier – die statt Catherine Deneuve nun Séverine spielt – nachdem er sie zufällig auf der Straße wiedersieht. Wie bei Buñuel ist sein Begehren zwiespältiger Natur. Neugier mischt sich mit Sentimentalität. Und wie im Original ist Séverines Reaktion ebenfalls ambivalent, geprägt von Ablehnung und heimlicher Erregung. Dass diese beiden sich vor langer Zeit mal kannten, führt zu einem raffinierten Spiel zwischen ihnen: Was weiß der andere noch von mir? Das Wissen übereinander macht die alte Liebe hier einmal nicht einfacher, sieht das Gegenüber doch die Spuren des Alterns und damit die eigenen Schwächen deutlicher als jede unbedarfte neue Bekanntschaft. Der Film ist ausgesprochen leise, „klein“ – ein Kleinod über Begehren, Alter, das Leben und ja, auch den Tod und damit natürlich ganz, ganz groß.

BARBARA SCHWEIZERHOF