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Ohne Perestroika geht die EG bankrott

■ Finanzprobleme, an deren Lösung seit Monaten die EG–Bürokratie und nationale Fachministerien scheitern, umwölken den Brüsseler EG–Gipfel / Knackpunkt sind die Agrarausgaben / Süd–Nord–Konflikt um die Neustrukturierung der EG–Finanzierung ist vorprogrammiert

Aus Brüssel Thomas Scheuer

Belgiens Ministerpräsident Wilfried Martens, derzeit noch amtierender EG–Ratsvorsitzender, tourte letzte Woche noch schnell durch alle Hauptstädte des Zwölfer–Clubs; die EG–Außenminister hockten sich übers Wochenende zum vorbereitenden Konklave in Brüssel zusammen. Die hektischen Runden signalisieren die Bedeutung des gestern und heute in Brüssel stattfindenden Gipfeltreffens der EG–Regierungschefs, werfen aber auch einen Schatten auf die ohnehin minimalen Chancen. Wieso sollte den Staatshäuptlingen in ein paar Gipfelstunden auch gelingen, woran sich eine gigantische EG–Bürokratie, Expertengremien und Fachministerrunden monatelang vergebens abmühten - den bevorstehenden Konkurs der Gemeinschaft abzuwenden. 1987 wird ein Defizit von über 5 Milliarden ECU (ein ECU = 2,07 DM) erwartet; die Aussichten für 1988 sind noch miserabler und drohen - so die düstere Prognose des Europa–Parlaments - „die Finanzstrukturen der Gemeinschaft zu sprengen“. Per Dringlichkeitsentschließung fordert das Straßburger Parlament daher vom Brüsseler Chef– Meeting eindeutige Beschlüsse zur Gemeinschaftsfinanzierung. Doch die Brüsseler Runde hat schlechte Karten: Die vom Parla ment eingeklagte „neue Finanzverfassung“ der Gemeinschaft würde eine Lösung des Dauerbrenners Agrarmisere voraussetzen. Die immensen Agrarausgaben, die mehr als zwei Drittel des EG–Etats verschlingen, haben die EG im 30. Jahr ihres Bestehens nicht nur an den Rand des finanziellen Kollaps getrieben, sie verschärfen - weil der Agraretat den Regional– und Strukturfonds die Gelder wegfrißt - den Süd–Nord– Konflikt. Zudem scheinen sie das Ziel eines einheitlichen Binnenmarktes bis 1992 zu gefährden. Morgen, am 1. Juli, tritt (wegen notwendig gewordener Volksabstimmungen in Dänemark und Irland mit Verspätung) die auf dem EG–Gipfel vom Dezember 1985 in Luxemburg verabschiedete „Einheitliche Europäische Akte“ in Kraft, jenes dürftige Minimalkonsens–Papier, das ursprünglich zur großen Reform der 30 Jahre alten römischen EG–Verträge geraten sollte. In dieser Akte werden stärkere Finanzspritzen für die ärmeren EG–Partner Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland zur Förderung ihrer Wirtschaft als Voraussetzung zur Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes genannt. Während z.B. das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im EG– Durchschnitt bei 10.059 ECU liegt, beträgt es in Portugal nur 2.849 ECU. Die Brüsseler EG–Kommission will neben einer allmählichen Senkung der Agrarausgaben vor allem mit der Einführung eines neuen Finanzierungssystems eine Steigerung der EG–Einnahmen um 50 Prozent bis 1992 und damit eine Verdoppelung der Regional– und Strukturfonds erreichen. Nach der von der Kommission vorgeschlagenen Neustrukturierung der EG–Einnahmequellen (bisher Zölle, Agrarabschöpfungen und Mehrwertsteueranteil) sollen die Abgaben der einzelnen Länder zukünftig auf der Basis ihres jeweiligen Brutto–Sozialprodukts (BSP) berechnet werden. Die Front verläuft wieder einmal typisch: Mit Ausnahme Italiens, dessen BSP mittlerweile dasjenige Englands übertrifft, sind die Südstaaten einhellig dafür, die reicheren Nordstaaten geschlossen dagegen oder melden zumindest „Bedenken“ an. So wird eingewandt, die dem neuen Berechnungssystem innewohnende Progression widerspreche dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten. Die Befürworter halten dagegen, daß die Progression schließlich auch als Instrument der Steuerpolitik in allen nationalen Finanzsystemen vorgesehen sei. Lineare Berechnungsmodelle würden die ärmeren, also die südlichen Volkswirtschaften stärker belasten als die der wohlhabenden Länder. Da das Kommissions–Modell mit dem Brutto–Sozialprodukt auch Investitionen, öffentliche Ausgaben, Handelsbilanzüberschuß usw. eines Landes einbeziehe, also Elemente, die seine Beitragsfähigkeit differenzierter kennzeichneten, falle das neue System gerechter aus. Die Linie der in Bonn Regierenden verläuft im gewohnten Zick– Zack–Kurs: Während Stoltenberg sich in der Brüsseler Kollegenrunde als eifriger Apologet restriktiven Sparens gibt, blockt sein Kabinettsbruder Kiechle jeden noch so bescheidenen Versuch ab, den Agrar–Subventionsdschungel zu lichten. Dabei spielen ideologische Bindungen an die Scholle und der Blick aufs wählende Landvolk die Hauptrolle. Denn in der Praxis landet ja nur ein Bruchteil der unter Kiechles Dogma der „garantierten Agrarpreise“ im wahrsten Sinne des Wortes verbutterten Agrar–Milliarden bei den Produzenten auf den Bauerhöfen. Vielmehr fließt das Geld in die Taschen einiger weniger Agrar–Industrieller und in die expandierende Zwischenbranche: Ganze Speditionen leben mittlerweile vom Verschub überschüssiger, nicht absetzbarer Nahrungsmittel; der Bau eines Kühlhauses oder eines Lagers scheint manchem Dörfler schon bald rentabler als der eines Futtersilos oder eines neuen Stalls; im Hamburger Hafen bringen zwei Frachtschiffe, als schwimmende Getreidesilos auf Anker gelegt, ihrer Reederei mehr Profit ein als auf großer Fahrt. Anstelle der Kommissionsvorschläge favorisiert Bonn eine Erhöhung des EG–Mehrwertsteueranteils von 1,4 auf 1,6 Prozent, wie sie schon auf dem Gipfel 1984 in Fontainebleau angepeilt wurde, allerdings erst für 1988. Die freilich würde nicht einmal das diesjährige Defizit decken. Von England, Holland und der Bundesrepublik ebenfalls abgelehnt wird bisher die Einführung einer sogenannten Fettsteuer, die das Finanzloch etwas stopfen könnte. Erhoffter Nebeneffekt einer solchen zusätzlichen Besteuerung pflanzlicher Fette, z.B. Margarine, wäre - neben erhöhten Einnahmen - ein leichtes Abschmelzen des Butterberges. Problematisch scheint dabei, daß diese EG– Fettsteuer den GATT–Bestimmungen widersprechen und handelspolitischen Stunk mit den USA sowie einigen Dritte–Welt– Ländern provozieren dürfte. In der Erkenntnis, daß dem Finanzschlamassel nur über eine Lösung der Agrarmisere beizukommen ist, werden möglicherweise am Fuße des Gipfels gleichzeitig die Agrarminister tagen. Die konnten sich in fünf Verhandlungsrunden nicht auch nur ansatzweise einigen.

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