: Perestroika in den Jugendbeziehungen
Bundesdeutsche Jugendgruppen reisten nach Moskau, Estland und Leningrad / Einige der Besucher aus dem Westen betätigten sich als Tabu-Knacker / Ein Arbeitskreis über Homosexualität führte zu einer Flut von Anrufen und Zuschriften ■ Von Thomas Hetzer
Acht bundesdeutsche Jugendorganisationen, von der Jugendorganisation der DKP, der SDAJ, bis hin zur Deutschen Sportjugend, sind zu einem Austausch in die Sowjetunion gereist. Das war der Auftakt zu einer Umgestaltung der Jugendbeziehungen zwischen beiden Ländern. Bislang war nur der bilaterale Austausch mit kleineren Gruppen üblich und umfaßte daher meist ältere Verbandsaktive. Diesmal waren es 200, meist ganz jungen Leute und oft nicht einmal Mitglied des Verbandes, die sich auf die Reise nach Moskau, Estland und Leningrad machten. Die sowjetischen Delegationen aus Moskau, Leningrad, der Ukraine und Estland bestanden dagegen vor allem aus Funktionären der KMO (Komitees der Jugendorganisationen), Dolmetscherinnen und Mitarbeitern Moskauer Institute, die in den Arbeitskreisen die offizielle Politik vertreten sollten.
Alle gemeinsam, Gastgeber und Gäste, demonstrierten 14 Tage land, daß Perestroika und Glasnost einen Prozeß darstellen, der mit seinen Widersprüchen sowjetische und bundesdeutsche Kinder de „Stagnation“ (so die sowjetische Bezeichnung der Breschnew-Zeit) immer wieder überfordern kann.
Während die Gastdelegationen am ersten Tag Kreml und Kathedralen besichtigten, wurden acht Jugendzeitungsredakteure in der Presseagentur „Nowosti“ von Elena, einer Delegierten zur 19.Parteikonferenz, Michail, Vertreter der informellen Greppe „Sozialistische Initiative Demokratische Perestroika“, und drei Journalisten über die Parteikonferenz, die Delegiertenwahlen, Frauen in der Sowjetunion und informelle Gruppen informiert. Dazu Michail: „Mehrere Kandidaten? Es war, als ob Gott sagte, nun Adam, wähl dir eine Frau.“ Ein anderes Thema: Perestroika in der Bewältigung der Stalin-Ära. Letzteres ging dem Vertreter der bundesdeutschen „Falken“ offensichtlich zu weit, denn „Stalin hat doch auch Grandioses geleistet“. Da fiel den anderen nur noch „Autobahn“ ein.
Auch in den folgenden zwölf Tagen, im estländischen Ferienzentrum Noorus bei Narwa, wurden bei allen Beteiligten die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion und die Möglichkeiten des erstgen gemeinsamen Jugendlagers „für Verständigung und Zusammenarbeit“ deutlich.
Verstanden sich die Falken ausdrücklich als Gäste, so betätigten sich die Jungdemokraten atkiv als Tabu-Knacker. Ihre Arbeitskreise, unter anderem zu Atomenergie und Kriegsdienstverweigerung, Drogen und Gentechnologie, machten die Hälfte der bundesdeutschen Angebote aus. Daß sie zum Arbeitskreis „Sexualität und Verhütung“ mit einer Kondom -Verteilaktion einluden, war im Lager Gejsprächsthema Nummer Eins, die Berichterstgattung des estnischen Jugendrundfunks über den Arbeitskreis „Homosexualität“ sorgte für eine Flut von Anrufen und Zuschriften.
Sexualität ist auch in der Zeit von Glastnost, der neuen Offenheit, noch kein Tehma offener oder gar öffentlicher Diskussion. Abreibung gilt als die am weitesten verbreitete „Verhütungsmethode“ und „gute Frauen“, so war im Männer -Arbeitskreis zu hören, „können sich auf den Mann einstellen.“ Daß Homosexualität heilbar sei, weil es sich doch oft um „abgewiesene Jungen handelt, die dann Trost suchen“, gehört weiterhin zu den Gemeinplätzen, auch wenn der sowjetische Paragraph 175 jetzt abgeschafft werden soll.
Doch viele haben bereits Abschied genommen von alten Denk und Argumentationsweisen. Das KMO Estland hatte einen Vertreter der „Grünen Bewegung Estlands“ in ihren Reihen, und die Leningrader Delegation beendete ihren halboffiziellen Vorstellungsabend mit heftigen Diskussionen über die ökologischen Folgen eines geplanten Dammbaus und die Kontakte des Leningrader Komsomol zu einer sowjetischen Hare-Krishna-Gruppe.
In den Arbeitskreisen fügten die Experten aus den Moskauer Instituten den so gekennzeichneten „offiziellen“ Standpunkten wiederholt ihre privaten an. Wer hätte zuvor Einstimmigkeit über die weltweite Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung erwartet? Dazu noch mit der Begründung, daß „die allseitige Bedrohung eine These der offiziellen Propaganda ist. Wozu brauchen wir die Armee? Für die CSSR 1968 oder Ungarn 1956?“
Es wurde kein Gespräch, kein Thema, keine These gescheut, auch wenn viele sowjetische TeilnehmerInnen immer wieder auf schweigsame aber umso aufmerksamere Zuhörer hinwiesen: „Wir haben keine Angst mehr vor ihnen, denn sie können jetzt nichts machen. Aber sie sammeln Informationen und warten auf andere Zeiten. Und das ist kein gutes Gefühl.“ Kein gutes Gerfühl auch zeitweise beim gastgebenden KMO. Immer wieder wurde der eigene Mut zur Offenheit mehr oder minder offen gebremst.
Andere Gäste des Ferienzentrums und Jugendliche aus der nahegelegenen Stadt Narwa nahmen die Plätze derjenigen jungen Sowjetbürger ein, die der Teilnahme an einem Arbeitskreis einen Tag am Strand vorzogen. Aserbaidschaner erklärten Berg-Karabach zum Nicht-Thema, während Armenier, unterstützt von den Esten und vielen Anhängern informeller Gruppen, offensiv für ihre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung eintraten. Georgier beklagten den schleichenden Verlust ihrer nationalen Identität, und die Esten kämpften um einen eigenen Arbeitskreis „Estland“. Der diskutierte dann, trotz kaum verhüllter offizieller Ablehnung (zuerst wurde bundesdeutsches Desinteresse unterstellt, später auf das Fehlen eines passenden Tagesthemas verwiesen), sechs Stunden lang über Russifizierungsdruck und estnische Souveränitätsansprüche.
Ausgerechnet dieser Arbeitskreis hatte die mit Abstand geringste bundesdeutsche Beteiligung. Dabei war unverkennbar, daß neben der Versorgungsproblematik vor allem die Nationalitätenfrage über das Schicksal von Glasnost und Perestroika entscheiden wird.
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