Maden im Brot, gottgewaltiger Kapitän

■ Vor 100 Jahren lief ein Gymnasiast seinen Eltern weg und segelte zwei Jahre durch die Welt

An einem Frühlingstag des Jahres 1884 ging der Gymnasiast Franz von Wahlde in Elsfleth über den Weserdeich nach Hause. plötzlich warf er seine Büchertasche in den Fluß und kehrte nicht mehr zu seinen Eltern zurück. Er heuerte auf dem Lastensegler „Pallas“ an und war an Bord dieses Schiffes zwei Jahre lang im Atlantik und im Indischen Ozean unterwegs. Während dieser Zeit führte er ein

Tagebuch en detail. Kaum war etwas erlebt, schon eilte von Wahlde in die Logis, um's aufzuschreiben: Zum Beispiel die harte Arbeit des Segelreffens bei Sturm, die den Stubenhocker aus gutem Hause arg beutelte: Der Ruf: „Alle hands und de Kock“ tönte ins Logis. Schnell heraus an Deck. Kalter Gischt spritzte uns ins Gesicht, donnernd brachen die Seen über die Luvseiten, in furchtbarem Winkel lag das Schiff nach Steuerbord über, dazu heulte der Sturm, Hagelschlaken flogen durch die Luft und hoch droben drohten die Marssegel aus den Lieken zu fliegen. Von hoch droben, wie wir die Reffleinen festzogen, sah ich mir die Seen genau an. Ringsum das Meer in wildem Aufruhr, bis in die unermeßliche Weite schwollen die weißen, drohenden Kämme, das Schiff arbeitete sich mühsam seinen Weg, und vom Deck war wenig zu sehen, so hoch brandete die salzige Flut. Wie die Marssegel fest waren, wurde die Fock gerefft. Das war eine Arbeit! Das ziemlich neue Segel war durch die Nässe steif geworden, so daß, was man mühsam mit wundgearbeiteten Händen hielt, oftmals vom Sturm entrissen wurde.„

Zur schweren Arbeit kam das schlechte Essen:

Das Trinkwasser ist ungenießbar durch seine Wärme, es beginnt leise zu stinken. Im Brot zeigen sich dicke Maden, die mich jetzt anwidern, an die ich mich gewöhnen muß. Die Seeleute lachen darum und werfen das Brot in heißen Caffee, die von unten kommende Hitze zwingt dann die holden Geschöpfe, nach oben zu kriechen, aus den Löchern heraus, wo sie dann abgeschöpft werden.

Die Seeleute vor hundert Jahren hatten noch weniger Rechte als einfache Arbeiter an Land. Der Kapitän galt als „Master next God“, Ungehorsam gegen die Schiffsführung wurde mit drastischen Geldstrafen geahndet. Dennoch traten die Matrosen der „Pallas“ in einen kurzen Streik, als der Kapitän sie an Himmelfahrt zur Arbeit schicken will, und setzen so ihren freien Tag durch.

Franz von Wahlde ist ein braver Schiffsjunge. Er kennt den Kapitän von Elsfleth her und hält zu den rauhen Seeleuten Distanz. Bei Steit am Himmelfahrtstag ergreift er keine Partei. Aber in seinem Tagebuch kommt die

Schiffsführung schlecht weg: Sie spart am nötigsten, sogar am Öl für die Positionslampen, die das Schiff nachts sichtbar machen sollen. Auf der Fahrt von Argentinien nach Mauritius hat das Schiff keine Ladung. Um schneller segeln zu können, nimmt der Kapitän so wenig Ballast an Bord, daß die Mannschaft in der riesigen Dünung dieser Meeresgegend ständig um Schiff und Leben fürchten muß. Und als im indischen Ozean Trümmer eines verunglückten Schiffs und sogar eine Flaschenpost in Sicht kommen, läßt der Kapitän das Schiff stur geradeaus halten, ohne sich um Schiffbrüchige zu kümmern. Die Schäbigkeit der christlichen Seefahrt, von der uns heute ein Hauch streift, wenn wir von Billigflaggen und Tankspülungen auf hoher See lesen, gabs also schon zu Windjammer-Zeiten.

Bemerkenswert: Einer der Eigner der „Pallas“, die so gewissenlos geführt wurde, war der Direktor der Elsflether Seemannsschule, die heute noch existiert.

Nach zwei Jahren Seemannsleben hatte Franz von Wahlde die

Nase voll. Er kehrte nach Elsfleth zurück, ging wieder aufs Gymnasium und wurde Tierarzt in Jever. Als Schriftsteller ist er, nach bisherigem Erkenntnisstand, nur noch einmal tätig geworden: Während des I. Weltkriegs schrieb er ein Tagebuch aus deutschnationaler Sicht. In diesen Notizen befürwortete er den rücksichtslosen U-Bootkrieg gegen Deutschlands Feinde. Das Schiff seines Jugendabenteuers, die „Pallas“ fiel eben diesem Krieg zum Opfer: Sie wurde 1917, inzwischen im Besitz eines dänischen Reeders von einem deutschen U-Boot im Kanal versenkt.

Zu seiner Zeit kam Franz von Wahldes Bordtagebuch nicht an die Öffentlichkeit. Seine Tochter, Adele von Wahlde, schickte es 1984 an das Bremerhavener Schiffahrtsmuseum, und jetzt liegt es, verziert mit vielen Federzeichnungen des Autors, als Buch vor.

mw

„Ausgebüchst“ von Franz von Wahlde, herausgegeben von Ursula Feldkamp und Uwe Schnall, Kabel-Verlag Hamburg und Hingstorff-Verlag Rostock, 36 Mark.