Tricksen, Mauscheln und Blockieren

Die grüne Fraktion im Europa-Parlament blockiert durch Mauscheleien ihre parlamentarische Arbeit / Grüne Konzepte für das Europa der Zukunft stehen noch aus / Für neuen Aufschwung sorgt vielleicht die heute beginnende Tagung der Euro-Grünen in West-Berlin  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

„Wo bitte geht es denn zur Arbeitsgruppe Umwelt?“ Der grüne Parlamentarier aus Italien hat sich in den Bürofluchten des Europäischen Parlaments verirrt. Da taucht ein bekanntes Gesicht auf, ein Mitarbeiter seiner Fraktion. Gelassen erwidert der: „Die Arbeitsgruppe hat doch bereits gestern abend stattgefunden.“ Der Neu-Parlamentarier ist völlig verwirrt: „In der AG sollte doch über die neuen Mitarbeiter abgestimmt werden? Weißt du, was mit meinen Kandidaten passiert ist?“ Schulterzuckend zieht der altgediente Mitarbeiter ab - da ist wohl wieder einer ausgetrickst worden.

Tricksen, Mauscheln und Blockieren hat in letzter Zeit Hochkonjunktur bei den grünen VolksvertreterInnen in Brüssel. Zu solch hinterhältigen Maßnahmen greifen sie allerdings nicht, um dem allmächtigen EG-Ministerrat oder dem uneinsichtigen EG-Verwaltungsapparat, der Kommission eins auszuwischen. In der Regel auch nicht, um einen wichtigen Vorschlag gegen den Widerstand konservativer oder sozialdemokratischer Abgeordneter durchs Parlament zu schleusen. Vielmehr soll der Rückgriff auf „mafiose Verhaltensweisen“, wie das neue Politikverständnis bereits genannt wird, den Machtkampf in der eigenen Fraktion entscheiden helfen. Denn seit den Europawahlen letzten Juni machen die neu dazugestoßenen italienischen und französischen Delegationen der alteingesessenen bundesdeutschen Gruppe den Führungsanspruch in der grünen Euro-Fraktion streitig.

29 grüne ParlamentarierInnen gibt es jetzt dort, acht aus Frankreich, sieben aus Italien, sieben aus der BRD, drei aus Belgien, zwei aus Holland, einer aus dem Baskenland und eine aus Portugal. Daneben gibt es noch 14 Abgeordnete der Regenbogenfraktion, in der Regionalisten, aber auch dänische EG-Gegner sowie die ehemalige Euro-Grüne Dorothee Piermont vertreten sind. Ein Zusammenschluß kam nicht zustande, weil die „Newcomer“ sich um ihre „grüne Identität“ sorgten. Deswegen wurde aber auch in der eigenen Fraktion erst einmal tabula rasa gemacht - sowohl beim MitarbeiterInnenstab als auch bei den politischen Konzepten. Im Streit zwischen eingebürgerten Traditionen und modernen Managementideen blieb jedoch zuallererst der Einfluß der Fraktion im europolitischen Geschäft auf der Strecke. Für den erst im Sommer gekürten, im November zurückgetretenen und inzwischen doch amtierenden Co-Präsidenten der Fraktion Alexander Langer manifestiert sich die Bedeutungslosigkeit der Euro -Grünen in den politischen Leerformeln, auf die sie sich in einer Zeit weitreichender Veränderungen stützen: „Wir wollen ein Europa der Regionen und kein Europa der Nationen!“

Unterschiedliche Visionen

Mit den nichtssagenden Parolen soll es nun ein Ende haben. Von Montag bis Freitag dieser Woche wollen die Euro-Grünen mit Gleichgesinnten aus der DDR im Berliner Reichstag Ansätze für grüne Politik im neuen Europa entwickeln. Ein schwieriges Unterfangen: Schließlich gibt es alleine bei den West-Grünen zu entscheidenden Punkten teilweise erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Während beispielsweise der Südtiroler Alexander Langer die deutsche Einheit schon als gegeben ansieht und sie seiner Vision eines multinationalen, regionalistischen und föderalistischen Europa zu Grunde legt, zieht eine Mehrheit der deutschen Europaabgeordneten zusammen mit einigen Franzosen und Holländern die Zweistaatlichkeit vor. Für Birgit Cramon-Daiber aus Berlin drückt die „Triebkraft der überstürzten Vereinigung einen Irrationalismus aus, dem die anderen EG-Länder nicht stumm zusehen“ dürfen.

Streiten werden die Euro-Grünen diese Woche auch über die richtige Abrüstungspolitik: Während bundesdeutsche und holländische Abgeordnete an der Leitlinie „einseitiger Abrüstung“ festhalten, will Langer die Blöcke „symmetrisch“ entflechten. Unklar ist auch, ob Langers These „Europa braucht dringend die Wende zur Selbstbegrenzung“ auf Zustimmung stößt.

Unterschiede gibt es aber vor allem in der Einschätzung der EG. Wie ihre Berliner Kollegin Cramon-Daiber will das Vorstandsmitglied Claudia Roth aus der Region Aachen „den schnellen Zug zum EG-Binnenmarkt verlangsamen, um eine Öffnung zu den Ländern Osteuropas hin zu ermöglichen“. Langer hingegen hält die „derzeit bestehende EG für den bisher wirksamsten und glaubhaftesten Ansatz, um im Rahmen einer föderalistischen und regionalistischen Ordnung die militärischen und politischen Blöcke in Europa und die vielen alten und neuen ethnischen Spannungen“ zu überwinden. In diesem Sinne unterstützten vor allem italienische, aber auch französische Abgeordnete um den Spitzenkandidaten Antoine Waechter die Idee des EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, die Europäische Währungsunion zu beschleunigen.

Den meisten bundesdeutschen Euro-Grünen ist diese „EG -Geilheit“ jedoch zutiefst fremd. Sie halten es lieber mit dem französischen Vorstandsmitglied und Waechter-Konkurrent Yves Cochet, der die Vorschläge Delors zur Neuordnung Europas - die EG-Länder bilden eine Föderation, die sich mit dem Rest Europas konföderiert - für interessant hält, die damit implizierte Abkapselung EG-Europas vom übrigen Europa aber ablehnt. „Heutzutage ist auch bei einigen italienischen KollegInnen viel von den Vereinigten Staaten von Europa die Rede. Ich glaube aber, wir sollten nicht den Schwerpunkt auf 'Staaten‘ legen, sondern vielmehr die Bedeutung ganz Europas und seine regionalen Aspekte hervorheben - mit der Perspektive einer Europäischen Föderation von Regionen.“ Damit verbunden sieht allerdings auch er die Gefahr einer Balkanisierung Europas. Deswegen will Cochet unterscheiden zwischen den legitimen Forderungen nach regionaler Autonomie und einer Wiederkehr von Nationalismen.

Hierarchisierung

bei den Grünen?

Die neuerdings dominierende positive Einschätzung der EG und des Europaparlamentarismus hat weitreichende Konsequenzen: Auf Kosten der Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Gruppen zu eigenen Schwerpunkten wird bespielsweise die Parlamentsarbeit ausgeweitet und an die Ausschußstruktur des Parlaments angepaßt. Entsprechend dieser Logik soll die politische Verantwortlichkeit im Vorstand hierarchisiert werden. Und statt des Einheitslohns für die MitarbeiterInnen gibt es jetzt eine zweistufige Gehaltsskala, was dazu führt, daß in der unteren Klasse Zuschüsse gekürzt werden, um die Chefgehälter bezahlen zu können.

Daß es dabei nicht nur um andere Vorstellungen von Parlamentarismus, sondern auch um unterschiedliche politische Kulturen geht, verdeutlicht Claudia Roth am Beispiel der Diskussion über die geschlechterparitätische Stellenbesetzung in der Fraktion: „Was für uns ganz normal ist, erscheint den Italienern vollkommen absurd und führt deshalb zu einem wahnsinnigen Kampf.“ Ähnliche tiefe politkulturelle Gräben tun sich jedoch auch innerhalb der deutschen Delegation auf. Schwer fällt den „normalen“ Grünen im Alter zwischen 30 und 45 vor allem der Umgang mit dem 68jährigen Karl Partsch aus dem Allgäu. Als er mit Lederhosen, Wanderstiefeln und Rucksack ins Parlament einzog, lachten sie noch, als er dann anfing, hin und wieder mit den Sozialdemokraten zu stimmen, fluchten sie. Seit aber klar ist, daß er sich nicht an die Abmachung hält, einen Teil seiner Bezüge an die Ökofonds abzuführen, herrscht Kriegszustand. Sogar aus der Partei sollte er ausgeschlossen werden, obwohl er gar nicht Mitglied ist.

Als unabhängiger Kandidat, so betont der weißmähnige Alpenschützer, habe er aber bei den Europawahlen nach dem bundesdeutschen Spitzenreiter Friedrich-Wilhelm Graefe zu Bahringdorf immerhin die zweitmeisten Stimmen für die Grünen eingefahren. Außerdem pflanze er seit zehn Jahren mit vielen Freiwilligen „Bäume der Hoffnung“, die er selbst bezahlt. Unbeirrt von den Anfeindungen will er jetzt im Umweltausschuß des Parlaments für sein neuestes Projekt kämpfen: Das Streuobstwiesenprogramm - eine Neuauflage der alten Obstbaumwiesen - „das den kleinen und mittelständischen Bauernbetrieben durch geschickte Nutzung eine ökonomisch und ökologisch sinnvolle Bewirtschaftung“ erlaubt. „Der Schwerpunkt der Grünen sollte die Umweltpolitik sein“, sagt er, „denn wenn wir so weitermachen wie bisher, geht es mit Heulen und Zähneklappern bergab.“

Darin ist er sich mit dem italienischen Grünen-Vordenker Enrico Falqui einig. Der Professor aus der Toskana hält es für die wichtigste Aufgabe der Grünen, „jetzt unter Beweis zu stellen, daß wir in der Lage sind, die planetarischen Probleme zu lösen“. Dazu gehören seiner Meinung nach die Abrüstungsfragen, das Nord-Süd-Problem, die Vertrauenskrise der demokratischen Institutionen des Westens und die Krise der politischen Parteien. Er sieht eine „barbarische Kultur“ des moralischen Verfalls durch Illegalität und Drogengeschäfte überhand nehmen, gegen die auch die Grünen keine Rezepte haben.

Der grüne Club

Einige deutsche KollegInnen, so Falqui, scheinen die Tragweite der Krise noch nicht begriffen zu haben. „Sie glauben, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Daraus ergibt sich ein engstirniges Konzept für die Fraktion - ein Club, der sich auf die kleinen Dinge beschränkt und die großen Probleme unangetastet läßt.“ Die so Angegriffenen sehen es genauso, nur machen sie die „Geschäftsordnungsmachtpolitik“ der italienischen ParlamentarierInnen für die Situation verantwortlich. Einige von ihnen, so wird bereits spekuliert, arbeiten als fünfte Kolonne des umstrittenen Chefs der Radikalen Partei Italiens, Marco Panella, in der grünen Fraktion. Panella wird nachgesagt, Gelder für seine Partei von der Mafia erhalten zu haben. Er selbst ist als fraktionsloser Abgeordneter im Europaparlament.

Viele aber sehen den inneren Zustand der Fraktion als Reflex auf die miesen Bedingungen für parlamentarische Arbeit. Zwar wurden die Kontrollkompetenzen der Euro -Parlamentarier vor drei Jahren mit der Einheitlichen Europäischen Akte, einem Ergänzungsabkommen zu den Römischen Gründungsverträgen der EG, ausgeweitet. Seit den Europawahlen im Juni vergangenen Jahres gibt es auch, zumindest rechnerisch, eine linke Mehrheit im Parlament. Doch die parlamentarische Praxis wird seit der Verfahrensreform zunehmend von Abstimmungsmodi bestimmt, die einer großen Koalition zwischen Konservativen und Sozialisten Vorschub leisten. Für die kleinen Fraktionen ist es dadurch noch schwieriger geworden, im Parlament initiativ zu werden.

Claudia Roth hegt deshalb bereits den Verdacht, die Parlamentsarbeit sei „strukturell so angelegt, daß nichts dabei herauskommt“. Statt aber diese parlamentarische Tretmühle mit Aktionen und Initiativen zu stören und so im immer bedeutsamer werdenden EG-Geschäft mitzuspielen, lähmt sich die Fraktion seit nunmehr über einem halben Jahr mit internen Querelen. Deutlichster Ausdruck für die Misere: Von den 40 Planstellen für parlamentarische MitarbeiterInnen ist noch immer ein knappes Drittel unbesetzt. Über ein weiteres Drittel konnten sich die verfeindeten Gruppen erst in den letzten Wochen einigen. Resultat: Die Arbeit in den meisten Ausschüssen blieb bislang liegen, Entscheidungen wurden häufig den anderen Parteien überlassen.

Ausnahmen sind Bereiche wie die Arbeitsgruppe Landwirtschaft, wo kontinuierlich weitergearbeitet werden konnte, während beispielsweise Arbeitsgruppen zu den Themen Frauen oder Umwelt bei Null anfangen müssen. Für den bisherigen Generalsekretär Juan Behrend kein Grund zur Beunruhigung: „So lange braucht es halt, wenn die wichtigsten grünen Kräfte Westeuropas lernen, tagtäglich miteinander Politik zu machen.“ Wie lange es unter diesen Umständen dauern wird, bis die angestrebte Zusammenarbeit mit den Grünen Osteuropas funktioniert? Der eigentliche Testfall für eine europaweite Politik der Grünen soll im Juli stattfinden, wenn auf Einladung der Fraktion in Straßburg grüne Parlamentarier aus Ost- und Westeuropa über Langers Selbstbegrenzungsthesen diskutieren, die selbst bei manchen Grünen aus dem Westen nicht gerade populär sind.

MONTAG, 5/3/90AUSLAND HINTERGRUND11