: Regierung Modrow gescheitert
■ Hans Modrow - vom Gorbatschow-Epigonen zum Sterbehelfer des Arbeiter- und Bauernstaates
Walter Süß zieht einen Tag vor der ersten und zugleich wohl letzten freien Wahl in der DDR Bilanz. Die Regierung Modrow, angetreten, um die DDR auf den dritten Weg, in eine humane sozialistische Alternative, zu schieben, ist gescheitert. Geblieben ist ihr Verdienst, den friedlichen Übergang zur Demokratie mitgetragen zu haben. Geblieben ist aber auch das Vertrauen, das der Premier genießt.
Fünf Monate lang war Hans Modrow Ministerpräsident - keine lange Zeit für ein solches Amt und dennoch scheint erstaunlich, daß er sich so lange halten konnte. Als der Erste Sekretär der Dresdener SED am 13. November 1989 zum Vorsitzenden des Ministerrates der DDR gewählt wurde, war die Revolution etwas über einen Monat alt. Jeden Tag demonstrierten Zehntausende, doch die Machtstrukturen waren erst erschüttert, keineswegs gebrochen. Egon Krenz war damals noch Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär jener SED, die Verfassungsartikel 1 zur „führenden Partei“ bestimmte. Die gleiche Volkskammertagung, die Modrow wählte, wurde zum Zeugen des ersten und letzten Auftritts von Stasi -Chef Mielke, der - unter dem Gelächter der Abgeordneten sein Tun mit dem Satz rechtfertigte: „Ich liebe doch alle!“ Die Öffnung der Mauer war gerade vier Tage her und wie die DDR-BürgerInnen ihre Ausflüge in den Goldenen Westen verarbeiten würden, war noch gänzlich unklar.
Modrow war sich wohl bewußt, daß es nur einen Weg vorwärts gab: „Das Volk würde jeden beiseite fegen, der eine Wiederherstellung alter Verhältnisse zu versuchen wagt.“ Seine Ziele, die er in der Regierungserklärung am 17. November skizzierte, kreisten um das Bemühen, „das Vertrauen des Volkes zu erwerben und zu rechtfertigen“. Die „Legitimation der DDR als sozialistischer Staat“ sollte „erneuert“ werden durch Demokratisierung und Wirtschaftsreform. Die „Stabilität der DDR“ als Bedingung der „Stabilität Europas“ gelte es zurückzugewinnen. Das eigentliche Problem hat Modrow in dieser Erklärung allenfalls umschrieben, nicht offen erwähnt: die Aufgabe, ein bürokratisch verkrustetes System, das über einen schlagkräftigen und bedenkenlosen Repressionsapparat verfügte, ohne Gewalt zu beseitigen. Das war gewiß nicht nur eine Aufgabe der Regierung, doch mußte sie sich dazu verhalten. Man muß diesen Aspekt hinzunehmen, wenn man die Frage, die eine solche Bilanz nun einmal provoziert, beantworten will: Ob die Regierung Modrow - genauer gesprochen: die beiden Regierungen - gescheitert ist. Gemessen an ihren ursprünglichen Zielen ist sie das: Die DDR als eigenständiger Staat befindet sich in Auflösung. Betrachtet man sie aber als Übergangsregierung zu einem demokratischen System, so sieht das etwas anders aus: Diese Regierung hat - unter Druck von unten und von außen wesentlich dazu beigetragen, daß eine demokratische Revolution stattfand, in der kein Mensch physisch zu Schaden gekommen ist. Trennung von Partei und Staat
Ein erster entscheidender Schritt bestand in der unscheinbar klingenden - Bestimmung der neuen Regierung als „Regierung der Koalition“, ergänzt um die Feststel
lung: „Die Regierung ist und bleibt ein Organ der Volkskammer.“ Die spätere Streichung der „führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung war darin bereits angelegt. Bis dahin hatten die entsprechenden SED-ZK-Abteilungen, dessen Politbüro oder gar nur Honecker und Mittag bei Jagdausflügen Entscheidungen getroffen, für deren Konsequenzen dann die Minister die Verantwortung zu tragen hatten. Auch jetzt kamen noch 17 der 28 Regierungsmitglieder aus der SED, doch sie sollten nicht länger dank ihres Parteibuches ihre Kollegen dominieren und zugleich dem Parteiapparat untergeordnet sein. Dieser Vorsatz konnte umso eher gelingen, als die SED sich in den folgenden Wochen in einem Zustand fortschreitender Paralyse befand. Es war gar kein funktionsfähiger Apparat mehr vorhanden, der Regierungsentscheidungen hätte vorprogrammieren können. Das erste Kabinett Modrow war - trotz numerischer SED-Dominanz ein Kabinett von Technokraten, die sich vor allem durch fachliche Kompetenz ausweisen sollten. Ein Technokraten-Kabinett
Die grundsätzliche Entscheidung zur Trennung von Partei und Staat hatte Modrow gewiß zur Vorbedingung seiner Entscheidung gemacht, nach Berlin zu gehen. Damit wurde verhindert, daß die Regierung mit in den Strudel des Verfalls der SED gerissen wurde. Zugleich lag in seiner Alternative - Technokraten-Kabinett - allerdings auch eine gravierende Schwäche: Schließlich war die Herauslösung der Exekutive aus der Umklammerung durch die Partei nur die eine Aufgabe, die andere aber war, Unterstützung und Vertrauen für den Erneuerungsprozeß in der Bevölkerung zu gewinnen. Betrachtete man jedoch die Aktivitäten der Regierung unter diesem Aspekt, so hatte man häufig den Eindruck, daß ihre Mitglieder die politische Dimension des eigenen Handelns gar nicht begriffen.
Ein Eckpfeiler der Reformpolitik mußte die Wirtschaftsreform sein. Sie berührt fast alle Bereiche der DDR-Gesellschaft: gewachsene Sicherheiten und Bequemlichkeiten, Zukunftshoffnungen und -ängste. Die neue Wirtschaftsministerin Christa Luft aber behandelte dieses Projekt ganz unpolitisch: Froh der Fuchtel der Politbürokraten entronnen zu sein, blieben die Wirtschaftsexperten nun weitgehend unter sich. In exklusiven Zirkeln wie der Hochschule für Ökonomie wurde an einem neuen Modell gebastelt, das zwischen Bewahrung sozialer Sicherheit und Umstellung der Wirtschaft auf Weltmarktbedingungen vermitteln sollte. Die Öffentlichkeit erfuhr davon vor allem durch Dementis anstehender Preiserhöhungen, durch einzelne Gesetzesprojekte und durch die Schilderung drohender Gefahren im sozialen Bereich. Eine öffentliche Debatte über die denkbaren Alternativen und ihren jeweiligen Preis, über Prioritäten, auf die
die Gesellschaft sich hätte verständigen können, fand nicht statt. Für die Bevölkerung wurde die Frage der Reform damit zur Entscheidung zwischen einem unbekannten Modell und dem erprobten, wenn auch beängstigenden System der „sozialen Marktwirtschaft“ der BRD. Wie Menschen, mit denen vierzig Jahre lang erfolglos experimentiert worden ist, auf eine solche Alternative reagieren würden, war vorauszusehen. Auflösung der „Stasi“
Fast unverständlich ist die Art und Weise, in der mit dem „Stasi“ umgegangen wurde. Man kann - schon angesichts der weiteren Entwicklung - nicht unterstellen, daß hier seitens der Regierung Kräfte für einen blutigen Rückschlag konserviert werden sollten. Da diese Erklärung ausscheidet, wird das Vorgehen der Regierung noch schwerer zu erklären. Ein Detail macht das deutlich: Es gab binnen zweier Monate drei Ämter, die angeblich ganz unterschiedliche Funktion hatten, doch deren Namenswechsel vor allem ein Zurückweichen dokumentierte: das Ministerium für Staatssicherheit, das Amt für Nationale Sicherheit und den Verfassungsschutz. Um die angeblich guten Absichten dieser Institutionen zu erläutern, wurde jeweils der Pressesprecher vorgeschickt. Es handelte sich immer um das gleiche Gesicht: den Oberstleutnant Roahl. Zum Chef der des Amtes für Nationale Sicherheit wurde Generalleutnant Wolfgang Schwanitz gemacht, der schon seit 1951 bei der „Stasi“ war. Er erklärte im November in einem Interview mit dem „Neuen Deutschland“, sein Amt habe nun einen stark beschnittenen Aufgabenbereich und werde deshalb den Personalbestand „um etwa 8000 Mitarbeiter reduzieren“. Was er nicht sagte - und was erst später enthüllt wurde war, daß bei der „Stasi“ 85000 Hauptamtliche arbeiteten, d.h. eine Verringerung um noch nicht einmal 10 % angekündigt wurde.
Solche Hinhaltemanöver und Tricks auf der einen Seite und die immer weiter voranschreitenden Enthüllungen über das wahre Ausmaß des Überwachungsstaates auf der anderen Seite zerstörten das Vertrauen darauf, daß man diese Aufgabe der Regierung überlassen könne. Das Volk machte sich nun selbst durch Demonstrationen, Besetzungen, die Bildung von Bürgerkomitees an die Auflösung der „Stasi“.
Die Situation spitze sich weiter dadurch zu, daß die neue SED-PDS-Führung Ende des Jahres einen fatalen politischen Fehler machte. Sie nahm neonazistische Schmierereien an dem sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow zum Aufhänger dafür, wieder in die politische Offensive zu gehen. Sie schoß dabei weit über das Ziel hinaus: Auf einer Demonstration von einer Viertel Million Menschen wurde die Parole „Verfassungsschutz!“ gebrüllt. Die Sprecher der
alten Blockparteien beschworen den antifaschistischen Grundkonsens. Vermittelte wurde der Eindruck, daß nun die Restauration der früheren Verhältnisse auf der Tagesordnung stünde.
Modrow hat den Ernst der Lage anscheinend erst sehr spät begriffen. Noch zu Beginn der Volkskammersitzung am 11. Januar erklärte er, Nachrichtendienst und Verfassungsschutz seien notwendig. Erst als daraufhin CDU und LDPD drohten, die Regierung zu verlassen, revidierte er seine Position und sicherte zu, vor den Wahlen kein solches Amt mehr aufbauen zu lassen.
Angst und Wut der Bevölkerung gipfelten am 15. Januar darin, daß nach einer „Aktionsdemonstration“ des Neuen Forum die ehemalige Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße gestürmt wurde. Dort hatten immerhin etwa 30 Tausend hauptamtliche Mitarbeiter dieses elenden Gewerbes residiert. Der politische Schaden war weit verheerender als die paar Möbel und eingeschlagenen Scheiben. Wenn auf den Demonstrationen in diesen Wochen die Rufe nach „Wiedervereinigung“ immer lauter wurden, so nicht nur wegen der Verlockung des westlichen Konsumparadieses und dem Bedürfnis, unter die eigene Vergangenheit einen schnellen Strich zu ziehen, sondern auch wegen der über vierzig Jahre gewachsenen Ängste. Durch die Hinhaltepolitik der Regierung bei der Auflösung des „Stasi“ wurde suggeriert, das die einzige wirkliche Garantie gegen eine Umkehr zu den alten, verhaßten Verhältnissen ein schneller Anschluß an die BRD wäre. „Regierung der nationalen Verantwortung“
Im Januar geriet die Situation zunehmend außer Kontrolle. Die Demonstrationen nahmen zu; die Rufe nach „Wiedervereinigung“ wurden lauter; die Übersiedlerzahlen stiegen wieder drastisch an; die SED-PDS war ganz mit sich selbst und der Frage beschäftigt, ob sie sich nicht doch auflösen sollte; und die Wirtschaft befand sich auf beschleunigter Talfahrt. In dieser Situation beschloß Modrow, den Versuch zu starten, die am Runden Tisch versammelte Opposition in die Regierungsverantwortung einzubinden. Zuvor hatte das Technokraten-Kabinett dem Runden Tisch, der am 7. Dezember eingerichtet worden war, keine sonderlich große Beachtung geschenkt. Nun da völliger Zerfall drohte, änderte sich das grundlegend: Die MinisterInnen aus den oppositionellen Gruppen wurden zur eigentlichen Legitimationsgrundlage der Regierung, die sich damit zum ersten Mal direkt auf die gesellschaftliche Bewegung stützte.
Der Preis für diese Verlagerung der Legitimationsbasis der Exekutive bestand darin, daß - vor allem auf Druck der SPD der Wahltermin noch einmal nach vorn, auf den 18. März, gezogen wurde. Zudem sollten künftig alle wichtigen Gesetze zuerst am Runden Tisch diskutiert werden. Der Konsens, der dieses Bündnis ursprünglich zusammenhielt, war, daß es irgendwie gelingen mußte, noch bis zum Wahltermin zu kommen. Zur Vorbereitung der Wahlen wurde - gemeinsam mit Volkskammer und Rundem Tisch - ein sehr liberales Wahlgesetz verabschiedet und die Medienfreiheit garantiert. Gerade in letzterem Fall muß man allerdings eine kritische Anmerkung machen: Der zuständige Minister war im Begriff durch ein Abkommen mit vier bundesdeutschen Großverlagen die kaum gewonnene Freiheit in neue Abhängigkeit zu verwandeln. Erst eine Feuerwehraktion des Medienkontrollrats - genauer gesprochen von Konrad Weiß (Demokratie jetzt) - stoppte dieses Manöver. Gegen Vereinnahmung
Zusammengeschweißt wurden Regierung und Teile der Opposition zusätzlich dadurch, daß der Druck auf eine schnelle Vereinigung mit der BRD zunahm. Modrow ging wohl davon aus, daß er diesem Druck nicht lange standhalten könne. Ende Januar holte er sich bei Gorbatschow das Plazet für seine Konzeption „Für Deutschland, einig Vaterland“. Seine eigene Partei, die SED-PDS, erfuhr davon ebenso wie die Mitglieder seines Kabinets erst nachträglich. Noch im Dezember hatte Modrow die Fortexistenz der DDR als notwendig für das Überleben der Perestrojka in der Sowjetunion bezeichnet. Nun versuchte er die militärische Neutralität Gesamtdeutschlands als sicherheitspolitische Minimalbedingung für die Vereinigung festzuschreiben.
Im Vorgriff auf dieses Ereignis war die politische Klasse der BRD inzwischen dazu übergangen, das in der DDR erkämpfte öffentliche Terrain zu okkupieren. Das demonstrierende Volk wurde zum Claqueur für die Popularitätshascherei bundesdeutscher Politprominenz. Schließlich hatte nun jede der etablierten Parteien ihren DDR-Juniorpartner gefunden bzw. - im Falle der CDU/CSU - zusammengenagelt. Damit einher ging die demonstrative Mißachtung der Regierung Modrow durch Bonn. Höhepunkt war der Besuch einer DDR -Regierungsdelegation am 13./14. Februar. Nicht nur der Regierungschef sondern auch die Vertreter der Bürgerrechtsorganisationen, die MinisterInnen ohne Geschäftsbereich, wurden dabei derart arrogant abgefertigt, daß bei vielen DDR-BürgerInnen Ernüchterung einsetzte. Der Konsens, der die Regierung zusammenhielt, wurde dadurch auf eine breitere Basis gestellt. Es ging nun auch darum zu versuchen, in Kooperation mit erheblichen Teilen des Runden Tisches (mit Ausnahme vor allem von Schnurs „Demokratischen Aufbruch“), den Vereinigungsprozeß im Interesse der BürgerInnen des eigenen Staates zu be
einflußen. In einer „Sozialcharta“ wurde Bewahrenswertes aus der DDR-Entwicklung festgeschrieben. Mit einem Gewerkschaftsgesetz wurde versucht, die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten im Angesicht der hereinbrechenden Marktwirtschaft zu stärken.
Das wichtigste Vermächtnis nicht der Regierung Modrow insgesamt, wohl aber einzelner ihrer Mitglieder und vor allem des Runden Tisches an die künftige Regierung ist der Entwurf einer neuen Verfassung. Mit ihm wird versucht, die Vereinigung als Chance für Demokratisierung und Ausbau der Sozialstaatlichkeit in ganz Deutschland zu nutzen. Würde die von der künftigen Volkskammer gewählte Regierung dieses Erbe annehmen, so würde sie sich damit in die Kontinuität ihrer Vorgängerin stellen. Damit ist gesagt, daß die Regierung Modrow trotz aller Mängel doch ihre entscheidende Aufgabe gelöst hat: einen friedlichen Übergang zur Demokratie mitzutragen.
Walter Süß
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen