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Gefährdete Jugend

■ Analysepapier belegt verfehlte Jugendpolitik / Viele kommen mit gesellschaftlichen Widersprüchen nicht zurecht

Etwa 280 000 junge Leute verließen in den letzten 14 Monaten das Land. Weitere 300 000 15- bis 24jährige bekundeten den Willen, wahrscheinlich oder unbedingt noch zu gehen. Diese Fakten kann man einem 80seitigen Analysepapier entnehmen, das unter der Regie des Amtes für Jugend und Sport von mehreren Ministerien und dem Zentralinstitut für Jugendforschung erarbeitet wurde. Es diente dem Runden Tisch als Info-Material und soll alsbald verlegt werden. Der Bericht gilt als sozial-politischer Sprengstoff, da er erschreckende Tendenzen bei der Situation der Kinder und Jugendlichen in unserem Land feststellt, die sich unter einem falsch verstandenen marktwirtschaftlichen Denken extrem verschärfen könnten.

Dem Bericht zufolge hat sich allein die familiäre Situation bei vielen Heranwachsenden in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Eine Million von ihnen leben derzeit bei alleinstehenden Eltern, Verwandten oder in Heimen. Jährlich sind 70 000 Minderjährige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Besonders in den jungen Familien ist der Alltag mehr und mehr durch Streß, Hektik und Streit geprägt. Nur die Hälfte der älteren Schüler und Lehrlinge beurteilt die Partnerbeziehung ihrer Eltern als eindeutig positiv. Hinzu kommt, daß viele mit den wachsenden gesellschaftlichen Widersprüchen immer schwerer zurecht kommen. So stieg der Alkoholkonsum unter Jugendlichen dramatisch an. 25 Prozent der 16- bis 18jährigen kennen andere AltersgenossInnen, die schon andere Drogen außer Alkohol versucht haben. 30 Prozent der Lehrlinge sehen pessimistisch in die Zukunft.

Diese Zahlen gelten als Beleg einer verfehlten Jugendpolitik, die die Kinder und Jugendlichen zum Objekt gesellschaftlicher Strukturen und nicht zu selbstbewußt und verantwortungsvoll handelnden Menschen erzogen hat. Betrogene Ideale und die unter anderem aufgeführten Spannungspotentiale führen zu einer wachsenden Polarisierung unter den Jugendlichen. Während 65 Prozent Angst vor neofaschistischen Tendenzen haben, sprechen sich ein Viertel aller Schüler und Lehrlinge gegen Ausländer aus und nahezu ein Fünftel für ein Deutschland in den Grenzen von 1937. Das Gros stellen jedoch zur Zeit die Desorientierten. Allein 22 Prozent wußten im Februar nicht, ob sie überhaupt an der Wahl teilnehmen werden.

Alles in allem zeichnen sich - besonders kraß bei den 23 000 in Heimen lebenden Kindern - völlig unzureichend ausgebildete Fähigkeiten zur Problembewältigung ab. Der dazu notwendige Lernprozeß muß - laut Bericht - über die Förderung ungezwungener, kindlicher Kreativität, ihrer gesellschaftlichen (auch finanziellen) Anerkennung und der stufenweisen Erhöhung der Eigenverantwortung verlaufen. Dafür sei es dringend notwendig, die Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, wie Ferienlager, Freizeitzentren, Arbeitsgemeinschaften und Jugendklubs zu erhalten.

Heiko Fritsch

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