: Die Qual der Wahl
■ Die Symbolfigur Jelzin
Nach den Wahlen im Baltikum nun also auch Urnengänge in anderen Sowjetrepubliken. In einer Zeit, da rings im Lande die latente Russophobie zum offenen Ausbruch kommt und als Folgekrankheit der russische Nationalismus droht, sind die Wahlen in der RSFSR von besonderem Interesse.
Die Russische Föderation ist von der Kriese gebeutelt, selbst Vorzeige-Moskau leidet unter Lebensmittelknappheit. Zu den ökonomischen Schwierigkeiten gesellt sich eine Explosion der Kriminalität. Im Viertel um die Lumumba -Universität der Hauptstadt mußte unlängst gar eine zusätzliche, bewaffnete Polizeitruppe aufgestellt werden, die sich vor allem aus Studenten mit Afghanistan-Erfahrung rekrutiert. Die Miliz allein wird der Vielzahl der schweren Delikte nicht mehr Herr.
Mangel gebiert Korruption und Verbrechen, Korruption gebiert Mangel - wie diesen Teufelskreis durchbrechen.
Mit im Mittelpunkt des Interesses bei den Wahlen stand Radikalreformer und Symbolfigur Boris Jelzin. Bei den Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten im vorigen Jahr hatte er in Moskau kandidiert und seinen Mitbewerber, einen Werkdirektor, haushoch distanziert. Diesmal stellte er sich in Swerdlowsk überlegen. Zuerst war von 80, dann von immerhin noch 72 Prozent die Rede, die er erzielte. Jelzin bleibt im Gespräch. Auch für den zu schaffenden Posten des Präsidenten der RSFSR.
Jelzins Wahlprogramm unterscheidet sich von dem anderer Kandidaten durch wohltuende Klarheit, wozu angesichts der Unprofessionalität anderer Wahlkämpfer allerdings auch nicht viel gehört.
Boris Nikolajewitsch empfinde sich mehr als Sozialdemokrat denn als Kommunist, war im westlichen Blätterwald zu lesen. Nun ja. Wie radikal Radikalreformer noch sind, wenn sie bis nach oben gelangten und dann vielleicht doch tausend Rücksichten nehmen müssen auf die, die ihnen dabei halfen, bleibt ohnehin abzuwarten. Jelzin liegen populistische Gesten, er ist gewissermaßen ein Wyssozki der Politik. Ob das enfant terrible der Perestroika es schafft, nicht zum enfant perdu zu werden? Jelzins Sieg für sich genommen ist nicht unbedingt ein Zeichen für das Vorankommen der Reformer. Zu groß ist das Land und zu dicht der Filz.
Mario Kluge
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen