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Das vorletzte Aufgebot

■ Trübseliger Aufmarsch der Arbeitsplatzbesetzer im Berliner Lustgarten

Müde und abgeschlafft trotteten am Donnerstag mehrere zehntausend vom Alex zum Lustgarten. Vor gar nicht langer Zeit wurde, um eben dort zu demonstrieren, noch die Karl -Liebknecht-Straße benutzt. Jetzt im April schoben sich die Demonstranten durch das Einkaufsgewühl in der Rathausstraße. Die Einkaufenden nahmen es unwillig zur Kenntnis und widmeten sich dann ihren dringenden Erledigungen. Eingeladen zur Demo gegen Kohl und den 2:1-Umtausch hatten der Gewerkschaftsdachverband FDGB sowie 20 Parteien und Bürgerbewegungen. Gefolgt waren dem Aufruf auffällig viele nicht mehr ganz junge Menschen, Leute, deren Arbeitsplatz offensichtlich im Zentrum Berlins liegt. Die Veranstaltung lag praktisch auf dem Weg vom Ministerium oder der Verwaltung zur S-Bahn. Ein paar ganz originelle hatten tatsächlich Transparente gebastelt und in der Aktentasche mitgebracht. So richtig Lust zu demonstrieren hatte offensichtlich niemand. Was also trieb die Leute auf die Straße? Waren sie gekommen die RednerInnen zu hören?

Helga Mausch zum Beispiel. Die zufällige Vorsitzende eines krampfhaft um eine Daseinsberechtigung ringenden Reliktes vergangener Tage. Sie verstieg sich - in wessen Namen wohl gar dazu, „Kampfmaßnahmen“ anzudrohen. Gegen den Umtauschkurs von 2:1. Ob der sich davon beeindrucken läßt? Oder Jutta Brabant. Sie forderte Schutzmaßnahmen für bedrohte Industrien. Keine Rede davon, wer die finanzieren soll. Die Vereinigte Linke, der sie angehört, vielleicht?

Von frenetischem Jubel - dies gibt zu denken - war dagegen der Auftritt Gregor Gysis begleitet. Der Vertreter der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse brillierte als Amateur-Ökonom. Seine Appelle an Toleranz und Solidarität klingen ja noch ganz nett, aber die These von dem reicherem und dem ärmeren Staat (der natürlich reicher werden muß) scheint doch etwas wackelig.

Lang die Liste der RednerInnen. Wolfgang Templin war auch noch da und träumte seinen Traum. Dabei wedelte er heftig mit der „Neuen Verfassung“ - die hatte er in der Hand. Die Schauspielerin Käthe Reichelt sagte dann, was sie von den Leuten hält, die gekommen waren. Kälber seien sie. Und sie würden abgestochen werden. Mit einem Messer aus Kruppstahl. (Nebenbei, so schlimm kann das gar nicht sein. Jeder im Lande weiß, was vom sowjetischen Wald- und Wiesenstahl, dem Pendant, zu halten ist.)

Wegen der RednerInnen waren die Leute nicht gekommen. Die Menschen im Lustgarten hatten Angst. Angst vor dem Neuen, dem Anderen. Sie fürchten sich vor Herausforderungen, vor Veränderungen.

Dirk Branke

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