„Alpenstern“ und „Rhododendron“

Neben der bereits bekannnten Organisation „Gladio“ gab es weitere geheime Einrichtungen in Italien  ■ Aus Rom Werner Raith

Die Ankündigung des italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti hätte eigentlich Geheimdienstleute, Ermittlungsrichter und Dunkelmänner im In- und Ausland in höchste Alarmbereitschaft versetzen müssen. Andreotti am Freitag abend beim Verlassen des Sitzes der Kommission zur Kontrolle der Geheimdienste: „Ich habe das Staatsgeheimnis über die Organisation Gladio in vollem Umfang aufgehoben.“ Damit könnte die gesamte Struktur jener zugunsten der Nato werkelnden Untergrundgruppe aufgeklärt werden, die angeblich nur Guerillakämpfer für den Fall einer sowjetischen Invasion ausbilden sollte und die sich als Schwesterorganisation analoger Einrichtungen nahezu aller anderen Nato-Länder erwies. Der Verdacht, die „Gladiatoren“ hätten auch kräftig in der Innenpolitik mitgemischt, etwa um linke Parteien von der Regierung fernzuhalten, ist bisher nicht ausgeräumt.

Trotzdem wurde niemand sonderlich nervös. Im Gegenteil: Ehemalige „Gladio“-Aufseher, -Ausbilder, -Verbindungsleute treten nun im Ausland scharenweise vor die Fernsehkameras und geben Interviews. Fernsehreporter und kommunistische Senatoren durften sogar die Ausbildungsbasis Marargiu bei Alghero auf Sardinien besuchen.

Plötzlich erinnern sich bisher höchst konspirativ operierende Geheimdienstbosse an immer neue Organisationen vom Typ „Gladio“: Von mindestens fünf weiteren Guerillaeinheiten ist nun die Rede, mit malerischen Namen wie „Alpenstern“, „Meerestern“, „Rhododendron“, „Azalee“, „Ginster“, für die angeblich außer ihren gut 1.500 Mitgliedern noch weitere zwei- bis dreitausend Personen gearbeitet haben. Ihre Waffendepots waren nicht, wie die der gut 600 „Gladiatoren“, verbuddelt, sondern in Carabinieri-Kasernen untergebracht. In Italien hat offenbar niemand mehr sonderliche Angst vor solchen Enthüllungen — und im Ausland ebenfalls nicht. Andreottis Behauptung, es habe sich zumindest bei den „Gladiatoren“ um „Patrioten“ gehandelt, „für die ich die Hand ins Feuer legen würde“, hat den Verantwortlichen im gesamten Nato-Bereich die ersehnte positive Sprachregelung verschafft. In den anderen Nato-Staaten kam Empörung über die „Schwert-Organisation“ ohnehin nur schleppend (Deutschland) oder gar nicht (Frankreich) auf. Im Gegenteil: Politiker sind nun plötzlich „stolz“ auf ihre Ernstfallkrieger, man stellt sie — wie der von 1974 bis 87 zuständige „Obergladiator“ General Inzerillo — in eine Reihe mit den Widerstandskämpfern gegen den Faschismus. Damit hat Andreotti einen weiteren innenpolitischen Coup gelandet: Im Regen steht nun nicht mehr er, sondern alle, die im Gegensatz zu ihm behauptet hatten, von „Gladio“ nichts gewußt zu haben. Sozialistenchef Craxi, von 1983-87 Regierungschef, besserte inzwischen nach: Irgend etwas habe er mal unterschrieben, was auf Gladio schließen ließ. Und der Republikaner Spadolini, von 1981-82 Ministerpräsident, macht nun feine Unterschiede: Als er sagte, er habe nie was von der Geheimorganisation gehört, habe er sich auf seine Zeit als Regierungschef bezogen; als Verteidigungsminister habe er schon davon gehört.

Die venezianischen Staatsanwälte Casson und Mastelloni, die bei der Untersuchung ungesühnter Attentate auf „Gladio“ gestoßen waren, erwarten sich von der Aufhebung des Staatsgeheimnisses allerdings doch noch eine Reihe von Erkenntnissen, die die Beteiligten im In- und Ausland doch noch ins Trudeln bringen könnten: Einiges spricht dafür, daß etliche der mit „Gladio“ zusammenhängenden Organisationen tatsächlich nicht durch Nato-Geheimverträge abgedeckt waren, sondern von Teilen der „Gladiatoren“ in eigener Regie (aber weitgehend mit Wissen der Geheimdienste und mancher Politiker) zu kriminellen und klandestinen politischen Zwecken aufgebaut wurden. Mastelloni hat bereits die (bisher vom Staatsgeheimnis geschützte) Besucherliste für die Ausbildungsbasis bei Alghero gefordert. Ebenso will er wissen, wer die Waffen für die „Gladio“-Parallelorganisationen in die Carabinieri-Kasernen gebracht und dort bewacht hat und wer über sie verfügen durfte. Nach ersten Indiskretionen befinden sich auf diesen Listen nicht nur italienische Namen.