: Friedliche „Revolcón“ in Kolumbien?
Der Ex-Guerillakommandant Navarro Wolf führt mit weitem Abstand bei Meinungsumfragen zur Wahl einer verfassunggebenden Versammlung Alte Parteien sind durch Korruption, Skandale und Repressionspolitik diskreditiert/ Gefahr eines Attentats auf den aussichtsreichen Kandidaten der M-19 ■ Aus Bogotá Ciro Krauthausen
„Revolcón“: das Wort rollt auf der Zunge. Seit Präsident Cesar Gaviria im August sein Amt antrat, ist der „Umbruch“ in aller Munde. Revolcón mittels Umstrukturierung in den Ministerien und Behörden. Revolcón in der Wirtschaft durch Aufhebung der Importbeschränkungen, durch Privatisierung und Reformen der Arbeitsgesetzgebung und des Finanzwesens. Revolcón in Politik und Gesellschaft mit Hilfe einer Verfassungsreform, die wahrscheinlich in erster Linie die Gerichtsbarkeit und die Legislative umstrukturieren wird.
Damit nicht genug: Es könnte in den nächsten Wochen zu einem noch weitergehenderen und so bald kaum erwarteten Umbruch kommen. Seit 150 Jahren regieren zwei Parteien Kolumbien alleine: Die Liberalen und die Konservativen. Nach ersten Umfragen über die Präferenzen der Wahlberechtigten für die am 9. Dezember zu bestimmende verfassunggebende Versammlung könnte es damit aber bald vorbei sein: mit 43 Prozent liegt der Spitzenkandidat der ehemaligen Guerillabewegung „M-19“ im Bündnis mit der Koalition „Demokratische Allianz“ ganz vorne in der Gunst des Volkes. Meilenweit abgeschlagen folgt mit 12 Prozent der konservative Gómez.
Sechs Monate, nur sechs Monate ist es her, seit die rund 1.000 KämpferInnen der links-nationalistischen M-19 nach langen Verhandlungen mit der Regierung des liberalen Virgilio Barco die Waffen niederlegten. Kurz darauf konnten sie bei den Parlamentswahlen mit der deutschstämmigen Vera Grave eine Repräsentatin in den Kongreß schicken. Im April wurde ihr Päsidentschaftskandidat Carlos Pizarro von der äußersten Rechten ermordet. Einige Wochen darauf errang sein Nachfolger, Antonio Navarro Wolf, bei den Präsidentschaftswahlen mit rund 13 Prozent das beste Wahlergebnis in der Geschichte der kolumbianischen Linken. Daraufhin ernannte Präsident Gaviria ihn zum Gesundheitsminister — das erste linke Kabinettsmitglied in Kolumbien überhaupt.
Der 42jährige Ex-Guerilla-Kommandant, der als Ingenieur unter anderem an der renommierten London School of Economies ausgebildet wurde, avancierte schnell zum Lieblingsminister der Öffentlichkeit — und, nie dementierten Gerüchten zufolge, des Präsidenten. Politisch geschickt ging er als erstes die Hauptsorge seiner vielen Wähler an der Atlantikküste an: die von jahrzehntelanger Korruption der traditionellen Parteien bankrott gewirtschafteten Trinkwasserwerke der karibischen Großstädte. Zweieinhalb Monate später trat der seit einem Attentat 1985 unter Sprachstörungen leidende und gehbehinderte Navarro als Minister zurück, um die Liste zur verfassunggebenden Versammlung der M-19 anzuführen. Nun ist „nur noch der Himmel die Grenze“, wie die liberale Wochenzeitschrift 'Semana‘ aufgeregt schreibt.
Der Erfolg, der diesem gemäßigten und am ehesten als Sozialdemokrat zu beschreibenden Politiker in den Wählerumfragen zuteil wird, hat mit dem ohnehin erst in Ansätzen vorhandenen Programm der M-19 wenig zu tun. Ebensowenig mit der zweifellos sympathischen persönlichen Ausstrahlung des ehemaligen Kommandanten. Navarros Erfolg ist vielmehr das Resultat der Diskreditierung seiner Gegner: der traditionellen politischen Klasse Kolumbiens. Ihre Mitglieder sind mit allen Varianten von Korruption und Repression vertraut und haben jahrzehntelang jede soziale Reform verhindert.
Als Partei im modernen Sinne existieren die Liberalen nicht, was sich schon daran zeigt, daß sie dem Phänomen „Navarro“ nur von örtlichen Parteifürsten angeführte regionale Listen entgegenstellen können. Sie können keine Persönlichkeiten aufbieten, die nationale Integrationskraft hätten, von einer gemeinsamen Ideologie ganz zu schweigen: jeder liberale Wahlbaron zieht an einem anderen Strick.
Die konservative Partei ist in zwei Fraktionen zerfallen: Der Ex-Präsident Misael Pastrana mit seinen „Sozialkonservativen“ kann kaum noch Wähler anziehen. Sein Gegenspieler Alvaro Gómez kann mit der „Bewegung der nationalen Rettung“ zwar den Rufen nach „Law and Order“ gerecht werden, doch mit seinen Kreuzzügen gegen das von ihm seit Jahrzehnten mitzuverantwortende Klientelsystem dürfte er die skeptischen Wähler jedoch kaum überzeugen.
Als die Ergebnisse der ersten Wählerbefragung bekannt wurden, wies die Sprecherin einer konservativen Nachrichtensendung im Fernsehen darauf hin, daß Navarro „kein Kommunist“ sei, aber doch „gegen das System“. Diesem Eindruck versucht Navarro, der marxistischen Linken, die ihre eigene Liste aufstellte, nur wenig verbunden, von vornherein entgegenzutreten: auf Platz zwei der M-19-Liste steht der linksliberale Carlos Ossa, auf Platz drei der konservative Alvaro Leyva. Es folgen ehemalige Guerilleros, Gewerkschafter, Künstler und sogar der Trainer der kolumbianischen Fußball-Nationalmannschaft Franciso Maturana.
Trotzdem scheint ein stillschweigender Medienboykott gegen Navarro bereits angelaufen zu sein. Das wäre noch die sanfteste Spielart, den „Revolćon“ zu verhindern. Und wenn die M-19 auch nur 20 Prozent der Stimmen erreichen sollte — für viele Rechte wäre das bereits ein Grund, an die Möglichkeit einer Wahlmanipulation zu denken. Schlimmer noch: Bereits jetzt ist Antonio Navarro der von den Paramilitärs am meisten bedrohte Politiker Kolumbiens; die für ihn getroffenen Sicherheitsvorkehrungen sind nur mit denen für den Präsidenten vergleichbar. Befürchtungen, die äußerste Rechte könnte wie gegen Vorgänger Carlos Pizarro ein Attentat verüben, sind keineswegs aus der Luft gegriffen.
Das letzte Mal, daß die politische Klasse Kolumbiens sich ernsthaft bedroht sah, war 1970. Damals führte nach ersten Auszählungen bei den Präsidentschaftswahlen der Populist und ehemalige Militärdiktator General Rjas Pinilla. Am Wahlabend wurde eine Nachrichtensperre verhängt und Stunden später der konservative Kandidat Misael Pastrana als Sieger präsentiert. Drei Jahre später taten sich abtrünnige Kommunisten und Anhänger des Generals zusammen und gründeten eine neue Guerillagruppe. In der Namensgebung beriefen sie sich auf den Tag des wahrscheinlichen Wahlbetrugs: das war der Anfang der „Bewegung 19. April“ — M-19.
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