Moskau: Oberster Sowjet billigt Machterweiterung für Gorbatschow: Stärkung der Union
■ Das sowjetische Parlament stimmte am Samstag einer von Gorbatschow vorgeschlagenen radikalen Reform der Machtstrukturen zu. Das von ihm angepeilte Präsidialsystem macht das Amt des Ministerpräsidenten überflüssig.
AUS MOSKAU BARBARA KERNECK
Als sei über Nacht ein erleuchtender Geist über ihn gekommen, begann Michail Gorbatschow am Samstag vormittag plötzlich mit verständlichen Zungen zu reden. Während er noch am Vortage in schon gewohnter Weise vor dem Obersten Sowjet stundenlang vor sich hinräsoniert und die Deputierten mit Appellen und Beschwichtigungen überhäuft hatte, kam Michail Sergejewitsch nun zur Sache: Die exekutive Macht in der UdSSR müsse neu strukturiert werden, und der Präsident sei bereit, sich an die Spitze der Regierung zu stellen. Konkret bedeutet dies auch den seit Monaten auf unzähligen Meetings geforderten Rücktritt von Ministerpräsident Ryschkow, der aber als gesonderter Schritt nun gar nicht mehr notwendig sein soll, weil Ryschkows Arbeitsplatz ohnehin gestrichen wird.
Hatte den Präsidenten nun die Debatte des Vortages zu der Einsicht gebracht, daß die ehemaligen Unionsrepubliken sich keiner UdSSR-Regierung mehr unterordnen würden, die die politische und ökonomische Stabilität im Lande nicht gewährleisten kann? Oder wollte er sich vorrangig eine Atempause für den 34-Staaten-Gipfel in Paris verschaffen? Jedenfalls bemerkte die Regierungszeitung 'Iswestija‘ anerkennend: „Dieser Auftritt des Führers unseres Landes enthielt um genausoviel mehr konkrete Vorschläge, wie er kürzer als seine letzte Rede war.“
Fast als Putsch könnte man die Initiative Gorbatschows bezeichnen, der dem Parlament einfach vorschlug, die traditionelle Regierung abzusetzen und ihn selbst, ohne vorausgegangene Wahlen, an die Spitze eines neuen Kabinetts zu stellen. Die generelle Vorausbilligung, mit der der Oberste Sowjet der UdSSR den Vorschlag des Präsidenten am späten Sonnabend abend abgesegnet hat, gehört zur skurrilen Alltagspraxis dieses Parlaments und bedeutet noch lange nicht, daß das konkrete Gesicht dieser neuen Regierung bereits feststünde. Endgültig verabschiedet werden soll das neue Gesetz über die Reform der Strukturen der Staatsmacht erst nach intensiver Arbeit in den Kommissionen am 23. November. Danach soll der „Kongreß der Volksdeputierten“ am 17. Dezember in Moskau erneut zusammentreten, um die notwendigen Verfassungsänderungen abzusegnen.
Der jetzt vorgelegte Gorbatschow-Plan entwirft die Instanzen des neuen Staates nur global: Erstens soll der Nationalitätensowjet mit einer Reihe neuer Vollmachten ausgestattet werden und aus einem beratenden in ein aktives Koordinationsorgan umgewandelt werden. Daraus folgt, zum zweiten, daß möglicherweise der Präsidialrat durch ein Interrepublikanisches Komitee ersetzt wird, das praktisch die Rolle eines Kabinetts spielt und seinerseits, zum dritten, durch einen „Sicherheitsrat beim Präsidenten“ ergänzt werden soll. Um die Effektivität der Exekutive zu gewährleisten, ist, viertens, ein umfassender Wechsel in der persönlichen Zusammensetzung und in der Struktur der Unionsministerien vorgesehen, die vorerst in der Praxis vorrangig die Interessen der Rüstungsindustrie vertreten. Fünftens wird in diesem Zusammenhang der Kontrolleursposten eines Vizepräsidenten in Erwägung gezogen.
Um die laufende „Telefonjustiz“, die permanente Einmischung höherer Parteiinstanzen in laufende Gerichtsverfahren, auszuschließen, soll im Rahmen der Präsidialregierung ein besonderes Organ zur Koordination der Justiz- und Sicherheitsorgane geschaffen werden. Diese Aufgabe hält Gorbatschow offenbar für so dringlich, daß er sie schon in zehn bis zwölf Tagen zu verwirklichen hofft. Als sechsten Punkt erst nannte Gorbatschow die Neustrukturierung der Union. Er betonte dabei die Notwendigkeit der Verbindung zwischen den verschiedenen bisherigen Republiken, sprach sich aber gegen die Zerstückelung des Gesamtterritoriums aus.
Während der Präsident den achten und letzten Punkt, eine intensivere Koordination zwischen den Sowjets der verschiedensten Ebenen, vom Bezirk bis zur Gesamtunion, in der Schwebe ließ, äußerte er sich ausführlich zu Punkt sieben: der sozialen Absicherung der Wehrdienstleistenden. „Die Armee ist das Kindchen des Volkes“, versicherte der Präsident emphatisch: „Ich wiederhole absichtlich diese Formel, an der wir uns jahrelang orientiert haben.“
Gorbatschows Sorge um die Streitkräfte ist verständlich. Die besten Projekte zur Gestaltung und Verteilung der Macht im Staate werden ihm nichts nützen, wenn in diesen Kreisen die Emotionen überschwappen. Die Rückkehr Tausender von Offizieren aus den ehemaligen Bruderländern, die weder ein Dach über dem Kopf noch eine sinnvolle Beschäftigung erwartet, spitzt die soziale Krise im Lande zu. „Mehrere Kommandeure haben mir versichert, daß sie ohne Zögern in die Menge feuern lassen werden“, erklärte in den Korridoren des Obersten Sowjet ein gerade aus einem baltischen Staat zurückgekehrtes Altparteimitglied seinen beifällig nickenden Freunden. Und einem kürzlich noch hochrangigen, aber im Sommer gestürzten reaktionären ZK-Mitglied vermeldete kurz darauf ein freudig erregter Mitarbeiter: „Ich habe gute Nachricht für sie aus Abchasien.“ Die kleinsten Völker gegen die kleinsten aufzustacheln, wie zum Beispiel die Abchasier gegen die Georgier, ist in den letzten beiden Jahren ein Hauptschachzug der Apparatschiks in der Nationalitätenpolitik geworden. Auf den dringenden Appell der Herausgeber der 'Moskowskie Nowosti‘ an das Zentrum, nicht mehr zwischen den Nationalitäten zu intrigieren, ging Gorbatschow in seiner Rede leider nicht ein. Er schob die Schuld ein weiteres Mal den Masseninformationsmitteln in die Schuhe: „Es ist genug Zwist und Panik mit Hilfe des Wortes gesät worden.“
Nur wenn er die Realitäten akzeptiert und gewährleistet, daß der Rückzug der Mitgliedsstaaten der Union in die jeweils eigenen vier Wände erst einmal glimpflich verläuft, kann Gorbatschow seinen Ruf als historischer Neuerer wahren. Der Prozeß wird mühsam sein. „Unser gemeinsamer Weg führt von der Entwicklung des autonomen Landkreises zur Verbrüderung der ganzen Menschheit“, charakterisierte ihn ein Deputierter in der Debatte am Sonnabend abend.
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