DEBATTE: Das Weizsäcker-Syndrom
■ Politikverdrossenheit als Volkssport
Nicht einmal zwei Jahre unter einem gemeinsamen Staatsdach haben ausgereicht, um die Deutschen in tiefes Mißbehagen zu stürzen. Sie fühlen sich getäuscht, mögen ihre Politiker nicht mehr, ja, können sie einfach nicht mehr ausstehen. Alle Umfragen, Wahlergebnisse und in der U-Bahn mitgehörten Meinungsäußerungen zeigen einen wahren Abgrund zwischen der politischen Klasse und dem Volk. Während die Bundesbürger auch nach einer Serie verkorkster Länderspiele den nationalen Fußballgrößen immer wieder neu Hoffnung und Vertrauen entgegenbringen, addiert sich beim Berufspolitiker jedes Versagen zu einer am Ende erdrückenden Liste von Verfehlungen, die nach einer radikalen Lösung schreit: Weg mit dem korrupten und verlogenen Dilettantenpack!
Wenn der Große mit dem kleinen Mann...
Doch schon die konsequente Folgerung — „Her mit neuen Leuten“ oder besser: „Laßt uns mal ran!“ — ist nicht mehr vernehmbar. Statt dessen greint und grummelt, schönhubert und diestelt es, brauen sich neue alte Sammlungsbewegungen der deutschen Seele zusammen. Aus den unterschiedlichsten Motiven zusammengesetzt, verfolgen sie kein erkennbares politisches Ziel. Allein die Angst vor Verlust dient als hilfloser Wegweiser zwischen Desorientierung und Desillusionierung: Im Westen fürchten viele um ihren sozialen Wohl- und Besitzstand, im Osten kämpft das tief enttäuschte DDR-Volk gegen die allseitige Erosion der verbliebenen Identitätsruinen und schmerzhaften, als ungerecht empfundenen Zumutungen der deutschen Pseudo-Einheit. Alles mündet schließlich in den Vorwurf, die Politiker kümmerten sich nicht um die Lösung der Probleme, sondern um die Vervollkommnung ihrer Macht- und Karrierestellungen. Fern der Sorgen und Nöte des Volkes, oft unfähig und borniert, repräsentierten sie vor allem die Sonderinteressen ihrer Kaste. Die jüngsten Äußerungen des Bundespräsidenten verliehen dieser trotzig-resignierten Weltsicht die Weihen offizieller, hochmögender Nachdenklichkeit.
Das Weizsäcker-Syndrom als sublimster Ausdruck gesellschaftlicher Selbstzerknirschung ist aber zugleich Teil jener aggressiv populistischen Stimmungen, denen der kritische Diskurs begegnen möchte. Entfernt ähnelt der präsidentielle Einspruch gegen die „Machtversessenheit“ in Bonn denn auch dem rhetorischen Trick, mit dem Ronald Reagan vor zwölf Jahren gegen die Administration in Washington zu Felde zog, mit dem einzigen Ziel, an deren Spitze zu gelangen. Gern erkennt sich der kleine Mann im großen Mann, der es denen dort oben mal richtig gibt, und gern zeigt sich der Große dem Kleinen als Geistesbruder im Protest gegen die böse Welt und das schmutzige Geschäft der Politik.
Die Streitkultur steht zur Debatte
Dabei ist es nicht der sachliche Kern der Kritik, der Unbehagen erzeugt. Es ist vor allem das Richtige, das so falsch klingt. Der moralische Aufruf, die Forderung nach überparteilicher Vernunft und Aufklärung, die Mahnungen zu offenem Gespräch und konsensfähiger Problemlösung überspielen allzuoft die wahren Gründe des politischen Versagens. Wer die divergierenden sozialen Interessen, die gesellschaftlichen Selbstwidersprüche und Aphorien, die auch in aufrichtigen Marathon- Debatten und gewissenhaften Endlosverhandlungen nicht wegzudiskutieren sind, im ethischen Diskurs ewig schwebender Wahrheiten aufzuheben trachtet, trägt selbst zu einer gefährlichen Entpolitisierung bei.
Weizsäckers moralistische Dialektik des Sowohl-als-auch entspricht durchaus dem populistischen Sankt-Florians-Prinzip, das der politischen Auseinandersetzung durch einfache Verdrängung entflieht: Im Prinzip ja, aber nicht mit uns. Als der 'Spiegel‘ vor einiger Zeit nach der persönlichen Verantwortung von Weizsäckers für die Dioxin-Verseuchungen beim Chemiekonzern Boehringer fragte, in dessen Vorstand der heutige Bundespräsident saß, tauchte der Gesprächsenthusiast in tiefstes Schweigen ab. Auf eine konkrete Moral wollte er sich auch im Mai 1986 nicht festlegen, als Jugendliche ihn fragten, ob die Atomenergie nach der Katastrophe von Tschernobyl überhaupt noch zu verantworten sei.
Es ist kein Zufall, daß die aktuelle Politikverdrossenheit — anders als in den siebziger und frühen achtziger Jahren — in ein politisches Vakuum fällt, keinen vorwärtsweisenden politischen Katalysator mehr findet und sich daher zwischen wütendem Ressentiment und dumpf abgeklärter Gleichgültigkeit einzurichten beginnt. Plötzlich erscheint die vor kurzem noch gelobte bundesdeutsche Streitkultur als postmoderne Episode, die beim ersten wirklichen Streitfall nichts mehr zu sagen hat. Auf einmal wirken die intellektuellen Debatten der letzten drei Jahre wie Nachhutgefechte im historischen Puppentheater, Reflexe unverarbeiteter narzißtischer Kränkungen — oder als idealistische Appelle. Wolfgang Thierses Therapievorschlag etwa, man solle angesichts der Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland „die Wahrnehmung vereinigen“, oder Mathias Greffraths Aufruf an die Politiker, eine „Gesamtvision für Deutschland 2000“ mit in die Ferien zu nehmen und „große Gedanken zu hegen“, sind Rückfälle auf das diskurstheoretische Niveau einer schwäbischen Friedensgruppe.
Denn tatsächlich steht leise, klamm und heimlich jene „zivile Gesellschaft“ auf dem Prüfstand, die auch zur letzten Bastion der ehemals radikalen Linken geworden ist. Wenn selbst die 'FAZ‘ „schemenhaft die Gespenster von Weimar“ wieder auftauchen sieht, dann stellt sich die Frage nach dem demokratischen Potential in der Bundesrepublik nicht nur als kapriziöse Talkshow-Formulierung. In dem rauhen Klima des verschärften Verteilungskampfes werden die Räume des Diskurses enger, als es vernünftigen Argumenten guttut.
Gerade in diesem Augenblick latenter Parlamentarismusfeindlichkeit fördert eine wohlfeile Anti-Parteien-Polemik eher die wachsende Sehnsucht nach der großen sauberen Kraft, die endlich Ordnung schafft, als daß sie die pragmatische Reflexion der Erfahrungen mit der westdeutschen Demokratie in den Mittelpunkt stellt. Zu ihnen gehörten die „gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei an der Startbahn West“ ebenso wie die Erkenntnis, daß formale Rechtsgarantien wertvoller sein können als inhaltliche Begründungen, warum diese allein der Herrschaftssicherung des Kapitals dienen. Daß der christdemokratische Bundespräsident für die Grünen mehr lobende Worte findet als viele ihrer langjährigen Mitglieder, die an ihrer Partei schon oft verzweifelten, spricht weniger für präsidentielle Übersicht als für altersmilde Entrücktheit. Denn gerade die Grünen, die sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen liefern reiches Anschauungsmaterial für das prekäre Verhältnis von Basisdemokratie und parlamentarischer Repräsentanz, großen Ideen und basisbürokratischer Dummheit.
Statt Patentlösungen den Konflikt aushalten
Hochkomplexe Gesellschaften verweigern sich jeder Transzendenz; sie sind weder mit Radikalkuren noch vermeintlichen Patentlösungen — von ganz unten, von ganz oben, mit „überparlamentarischen Expertenkommissionen“ (Greffrath) oder von genialen Seiteneinsteigern — zur Vernunft zu bringen, sondern allein mit einer bewußten Konfliktbereitschaft möglichst vieler Demokraten, die die Widersprüche anerkennen und aushalten, ohne in Panik oder Indolenz zu flüchten. Neben allen nötigen und möglichen Reformen und zahlreichen „Begegnungen im Gespräch“ (Weizsäcker, Dönhoff, Bahners) über das Verhältnis von Geist und Macht wird es auch darauf ankommen, wie viele den Mut aufbringen, im richtigen Augenblick „den Stimmen aus dem Orkus entgegenzutreten“ (Norbert Blüm). Die neue Begeisterung für plebiszitäre, direktere Formen demokratischer Willensbildung muß sich selbst der Frage stellen, wie sie gesellschaftliche Entscheidungsprozesse besser als bisher organisieren will. Reinhard Mohr
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