: Eine Wallfahrt nach Lourdes
Die Cinemascope-Retrospektive im Filmpalast Berlin ■ Von Lars Penning
Als die britische Filmzeitschrift „Sight & Sound“ im Jahre 1955 einige Regisseure fragte, ob die neuen Breitwandformate von vergleichbarer künstlerischer und technischer Wichtigkeit seien wie die Einführung des Tonfilms, antworteten René Clair, Cecil B. De Mille und William Wyler kurz und bündig mit „Nein“. In Jean-Luc Godards Film Le Mepris äußert Fritz Lang die Ansicht, daß sich Cinemascope am besten zum Filmen von Schlangen und Beerdigungen eigne, und Billy Wilder hielt Scope für „das ideale Format, um das Leben eines Dackels zu verfilmen“. Die meisten Veteranen der Filmregie standen der breiten Leinwand mehr als skeptisch gegenüber.
Unter den „executives“ der großen Studios herrschte, wie sich Wilder erinnerte, jedoch eine Stimmung wie bei einer Wallfahrt nach Lourdes: Cinemascope galt als neues Wunderheilmittel für die angeschlagene Filmindustrie. Diese befand sich 1952 in einer Krise: Das Anti-Trust-Urteil von 1948 zwang die „big five“ (MGM, 20th Century Fox, Warner Bros., Paramount und RKO) zu einem schrittweisen Verkauf ihrer Filmtheater – die Konzentration von Produktion, Verleih und Abspielstätten unter einem Dach war bisher der Garant für den wirtschaftlichen Erfolg der Studios gewesen. Zudem hatte das Fernsehen bereits seinen langsamen, aber unaufhaltsamen Siegeszug begonnen. Um der Faszination des kleinen, damals noch schwarz-weißen Bildschirms etwas Wirksames entgegenzusetzen, mußte sich das Kino auf seine spezifischen Möglichkeiten besinnen.
Während der Versuch, die Tiefe des filmischen Raumes mittels 3-D-Photographie auszuloten, letztlich nur zu einer Fußnote der Filmgeschichte wurde, konnte sich das Breitwandverfahren Cinemascope durchsetzen. Die anamorphische Linse, derer man sich dazu bediente, blickte zu diesem Zeitpunkt brereits auf eine neunzigjährige Geschichte zurück. Der Engländer Sir David Brewster ließ sie sich schon 1862 patentieren, und auch Ernst Abb hatte Ende des vergangenen Jahrhunderts bei der Firma Zeiss damit experimentiert. Im ersten Weltkrieg entwickelte der Franzose Henri Chrétien eine Linse, die es Panzerfahrern ermöglichte, mit ihrem Periskop das Gelände in einem Winkel von 180 Grad zu überblicken. Eine Weiterentwicklung dieser Erfindung für das Kino, das „Hypergonar“, stellte Chrétien der Öffentlichkeit im Jahre 1927 vor.
Die anamorphische Linse staucht bei der Filmaufnahme das Bild einer Szenerie im Seitenverhältnis von 2,66:1 (später 2,55:1 und 2,35:1) so zusammen, daß die Aufnahme auf herkömmlichem 35-mm-Film möglich wird (Das alte Normalformat hat ein Seitenverhältnis von 1,33:1). Eine Linse vor dem Projektor entzerrt das Bild dann entsprechend. Statt Applaus erntete Chrétien jedoch nur Achselzucken: die französische Filmindustrie war an dem Breitwandverfahren nicht interessiert (Ausnahme: Claude Autant-Laras Construire un Feu von 1928), und auch die britische Firma Rank- Films oder die Paramount in Hollywood waren von Chrétien nicht zum Ankauf des „Hypergonars“ zu bewegen.
Lange erwies sich die Erfindung als ausgesprochener Ladenhüter. Erst im Jahre 1952 sicherte sich der Präsident der 20th Century Fox, Spyros Skouras, die Rechte an dem Verfahren. Skouras ließ die Produktion der bereits begonnenen Filme The Robe (Regie: Henry Koster) und How to Marry a Millionaire (Regie: Jean Negulesco) unterbrechen und in Cinemascope neu beginnen. Obwohl die Komödie How to Marry a Millionaire zuerst fertiggestellt wurde, hielt die Fox das biblische Epos The Robe für den kassenträchtigeren Stoff. Am 16.9. 1953 fand die Uraufführung des Films im New Yorker Roxy-Theater statt – bis zum Jahresende spielte The Robe etwa zwanzig Millionen Dollar ein. Daß die Fox ihr Patent in der Folgezeit auch den anderen großen Filmfirmen zur Verfügung stellte, entsprang einer rein wirtschaftlichen Notwendigkeit: Nur wenn die anderen Studios ebenfalls Filme im Cinemascope-Verfahren herstellten, würde es sich für die Kinos lohnen, ihre Projektion auf das neue Format umzurüsten.
Der kommerzielle Erfolg von The Robe bot genügend Anreiz: bis auf RKO und Paramount, die mit eigenen Breitwandformaten experimentierten, produzierten bald alle Studios in Cinemascope. Bei der Fox wurde die Devise ausgegeben, jetzt nur noch Filme im Scope-Format herzustellen; ausschließlich in Farbe und mit stereophonischem Ton. In dem 1957 entstandenen MGM-Musical Silk Stockings (Regie: Rouben Mamoulian) machen sich Fred Astaire und Janis Paige in einer Musiknummer über diese Tendenz lustig – aber selbstverständlich ebenfalls in Scope, Farbe und mit „stereophonic sound“.
Während Cinemascope beim Publikum zu einem vollen Erfolg wurde, waren die Kritiker in ihren Meinungen durchaus gespalten. Insbesondere fürchtete man die Rückkehr des theatralen Films: Das Breitwandformat ähnelte einer riesigen Bühne; die Kamera konnte jetzt größere Gruppen von Schauspielern in einer Einstellung aufnehmen, und die konventionelle Auflösung einer Dialogszene in Schuß/Gegenschuß wurde zunächst kaum angewendet. Das führte zu erheblich längeren Szenen und einer proportional sinkenden Schnittfrequenz. Für die Schauspieler veränderten sich die Arbeitsbedingungen – nicht nur weil sie längere Textpassagen lernen mußten; sie waren auch dann ständig im Bild, wenn sie gar keinen Dialog hatten. Victor Mature, einer der Hauptdarsteller in The Robe, äußerte sich zu diesem Thema: „Durch Cinemascope wird der Schauspieler zu weit intensiverem „Mitspielen“ als je zuvor gezwungen. Bisher war die Kamera auf wenige unmittelbar zur Handlung gehörige Figuren konzentriert. Die Weite der Cinemascope-Szenen, die annähernd dem natürlichen Blickwinkel des menschlichen Auges angepaßt sind, umfaßt die handelnden Personen mit ihrer Umgebung. Man ist also als Darsteller gezwungen, ganz anders auf den Dialog seiner Partner zu reagieren; mit anderen Worten: man ist ständig am Spiel beteiligt, auch wenn man im Augenblick nicht im Mittelpunkt der Handlung steht und nichts zu sagen hat. Der Film-Darsteller unterscheidet sich also hier nicht mehr von seinem Kollegen der Bühne.“
Montagesequenzen schienen kaum mehr möglich, und die wenigen Kamerafahrten und Schwenks zeigten in der Anfangszeit deutliche Unschärfen an den Rändern. Für die Fox bedeutete das Theaterhafte der Filme jedoch kein Manko – man hob es im Gegenteil noch besonders hervor: In The Robe öffnet sich vor Einsetzen der Handlung auf der Leinwand ein Vorhang, und How to Marry a Millionaire beginnt mit einer achtminütigen Sequenz, die das Fox-Studioorchester unter der Leitung von Alfred Newman beim Spielen einer Ouverture zeigt. Die Werbestrategen der Fox erdichteten dazu einen Text, der in der Feststellung gipfelte, das Scope-Format erreiche „the life-like fluidity of the stage“. Was die Autoren dieser Zeilen am Theater so lebensnah fanden, wird wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben.
Die Rechnung des Produktionschefs der Fox, Darryl Zanuck, daß mit dem Abdrehen von weniger Einstellungen auch geringere Kosten auf die Studios zukämen, ging indes nicht auf. Durch die nun längeren Einstellungen erhöhte sich die Anzahl der möglichen Fehlerquellen: Versprecher im Dialog oder die Unachtsamkeit der Statisten führten zu häufigen „retakes“. Außerdem wollte das breite Format gefüllt werden: Howard Hawks entwickelte bei Land of The Pharaos zum Beispiel den Ehrgeiz, das größte bezahlte Statistenheer in einer einzigen Einstellung einzusetzen – die Filme wurden immer teurer.
Parallel zur Produktion diverser Monumentalfilme, mit denen der Spektakelcharakter des Cinemascope mit Hilfe von gewaltigen Schauwerten demonstriert wurde, entdeckte man, daß sich mit Musical und Western zwei weitere Genres besonders gut für die Breitwand eigneten. Das Musical hatte (mit Ausnahme der Busby-Berkeley-Musicals) stets die Tendenz gehabt, die „performances“ großer Könner wie Fred Astaire oder Gene Kelly mit möglichst sparsamen Kamerabewegungen einzufangen und die Kontinuität des Raumes zu wahren. Auch bei Massen-Tanzszenen wie in Stanley Donens Seven Brides For Seven Brothers oder Experimenten mit dem Triple-Screen-Verfahren in It's Always Fair Weather (Regie: Stanley Donen und Gene Kelly) kam das Cinemascope-Verfahren gut zur Geltung.
Die Western wurden epischer und landschaftsbetonter. Edward Dmytryk, der Regisseur von Broken Lance, erinnerte sich an seine Begegnung mit der Breitwand: „Zum ersten Mal arbeitete ich mit Cinemascope. Normalerweise bevorzuge ich ein Format im Goldenen Schnitt, aber im wüstenreichen Arizona hatte ich plötzlich wieder Lust, mich auf etwas Neues einzulassen. Die sanften, fernen Gebirge bildeten einen schmalen, langgestreckten Horizont; Männer auf Pferden füllten die Leinwand eher längs als in der Höhe; selbst die gedrungene, ausgedehnte Architektur des amerikanischen Westens paßte hervorragend zu dem neuen Format.“
In der über fünfzig Filme umfassenden Retrospektive der Berlinale zum Thema Cinemascope mag man diese Aussage an einer Reihe von Western überprüfen – ebenso kann man sich mit der intelligenten mise-en-scéne eines Otto Preminger oder Nicholas Ray vertraut machen, die gewagten Schnitte in Samuel Fullers Forty Guns bewundern oder sich an einem historischen Spektakel erfreuen. Der Filmpalast, eines der wenigen Berliner Kinos, die das Cinemascope-Format noch korrekt wiedergeben können, lädt dazu ein, Filme wiederzusehen, neu zu sehen oder neu zu entdecken.Lars Penning
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen