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Das Schweigen zum Sprechen bringen

■ Der amerikanische Holocaust-Forscher Raul Hilberg stellte vorgestern abend sein neues Buch "Täter, Opfer, Zuschauer" im Martin-Gropius-Bau vor

Berlin. Mit eherner Strenge, unerbittlich genau und konsekutiv hat Raul Hilberg in seinem 1948 begonnenen und 1961 erschienenen Mammutwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ beschrieben, wie der Prozeß der Definition über die Selektion zur Vernichtung führte. Wegen dieser strukturalistischen Genauigkeit, und nicht etwa nur wegen der überwältigenden Menge an Detailinformationen, ist Hilbergs Werk nach wie vor das Standardwerk für alle, die sich mit dem Holocaust beschäftigen. Nun hatte die Stiftung „Topographie des Terrors“ Hilberg eingeladen, im Martin- Gropius-Bau sein neues Buch „Täter, Opfer, Zuschauer“ vorzustellen. Anstatt aber daraus vorzulesen, wie das wohl die meisten erwartet hatten, legte Hilberg in atemberaubender Offenheit dar, wie es zum Wechsel seines modus operandi gekommen war.

1961 war er nach Europa gereist, („ich weiß selbst nicht genau warum“), und plötzlich hatte er sein Interesse für Musik verloren, das ihn bei der Strukturierung seines ersten Buches geleitet hatte – Beethovens Symphonien hatten die Kapitelunterteilung und deren inneren Feinbau bestimmt. In der Zeit war eine Rezension erschienen, in der Eberhard Jäckel behauptet hatte, er sei ein marxistisch denkender Historiker, dem die einzelnen Täter und ihre Motivation in der großen Masse verschwänden. „Ich war aber Politologe. Wir suchen nach Mechanismen. Nicht das Warum interessiert mich, sondern das Wie.“ Dennoch begann er, sein Augenmerk auf das zu richten, was sich in den Einzelnen abspielte. „Ich ging in Venedig durch die Kunstmuseen, und mein Blick blieb an den Porträts hängen. Ich wußte nichts über das Privatleben der Beteiligten des Holocaust. Wer waren diese Leute?“ Schließlich wurde aus dem Porträt das Tryptichon, denn es gab zwar ein Zusammenspiel aller, aber scharf gezogene Grenzen – die Täter hatten dafür gesorgt, daß es keine Übergänge oder Grauzonen gab: Jude war, wer drei jüdische Großeltern hatte, egal welchen Glaubens er war. Auch jetzt in Amerika sei ein survivor immer ein survivor, egal, was er sonst noch sei.

Normalerweise sei der Vorgang der Erforschung immer von oben nach unten erfolgt; man habe sich mit Hitler, Göring, Goebbels und Himmler beschäftigt, sei dann aber bei Speer schon ins Zweifeln gekommen. „Ich wollte wissen, was die ganz gewöhnlichen Leute dachten, der Beamte auf dem Einwohnermeldeamt, die jüdische Frau, der ukrainische Soldat.“ Einmal sei er nach Bremen eingeladen gewesen, um über das Warschauer Getto zu sprechen. Dort habe man nichts über das 101. Polizeicorps gewußt, das aus Bremen kam und in Polen unter den Juden gewütet habe. Auch die ganz gewöhnlichen Opfer seien erst nach 1961, nach dem Eichmann-Prozeß entdeckt worden, zuallerletzt die Judenräte.

Hilberg sprach sehr langsam, lauschte jedem Wort nach, und beschrieb, daß die Schwierigkeit des Buches auch gewesen sei, die Geschichte des Schweigens zu erzählen, die der Holocaust auch gewesen sei. Die Juden hätten die Gaskammern gesehen und nicht darüber gesprochen; die Täter hätten den heimlichen Auftrag der „Endlösung“ gekannt und ihn nie beim Namen genannt; polnische Dorfbewohner hätten den in Zügen vorbeifahrenden Juden mit der Geste des Halsabschneidens bedeutet, was gleich auf sie zukäme, aber hätten auch nicht gesprochen. „Das Schweigen muß durch Lücken im Text dringen, man muß es zum Sprechen bringen.“

Im Gespräch mit der taz erzählte Hilberg, was ihn noch zum Wechsel vom strukturalistischen zum biographischen Ansatz bewogen hat. „Hier in Deutschland weiß man nicht, daß ich 1979 zusammen mit zwei Kollegen das Tagebuch von Adam Czerniakow herausgegeben hatte. Es ist ein sehr schwieriges Tagebuch, man braucht viele Experten, die sich mit deutschem, jüdischem und polnischem Leben auskennen. Ich war etwa sechs bis sieben Jahre in das Studium dieses einzelnen Mannes vertieft. In Claude Lanzmanns Film „Shoah“ habe ich lange über ihn gesprochen, so daß mir Lanzmann nachher sagte: Sie waren Czerniakow.“

In der anschließenden Diskussion wurde Hilberg natürlich sofort auf den Boom von Holocaust-Museen in den USA angesprochen. „Da steht ein KZ-Nachbau mitten in Washington.“ Wenn man das US-Holocaust Memorial Museum, an dem Hilberg selbst mitgearbeitet hat, von oben sehe, „hat es Wachtürme und Innenhöfe.“ Zugleich ist es aber auch ein Forschungszentrum mit Archiven und Bibliotheken. „Der Holocaust ist jetzt Teil der amerikanischen Geschichte, weil er zur Geschichte amerikanischer Bürger gehört. mn

Raul Hilberg: „Täter, Opfer, Zuschauer“. S. Fischer Verlag, 1992, 367 Seiten. Raul Hilberg wird am Sonntag um 11 Uhr sein Buch auch im Berliner Ensemble noch einmal vorstellen.

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