: Lange Waale in den Alpen
■ Ohne ein kompliziertes Wassersystem wäre der regenarme Südtiroler Vinschgau knochentrocken wie die Sahelzone
Duschvorhang zu, Wasserhahn auf. Wie selbstverständlich ist es, sich in einem Vinschgauer Hotel unter die Dusche zu stellen. Dutzende von Litern heißen Wassers rinnen über den Körper und spülen den Schweiß einer langen Bergwanderung ab. Kaum einer der wasserverschwenderischen Urlauber weiß, wie kostbar das Wasser in früheren Zeiten für die Vinschgauer war.
Der Vinschgau liegt in Südtirol. Das Tal zieht sich vom Reschenpaß an der österreichischen Grenze bis zum weiten Kessel der Kurstadt Meran. Wie die ersten Bewohner des Tales vor dreitausend Jahren den Fluß nannten, der das gesamte Tal durchfließt, ist nicht überliefert. Es ist die Etsch. Die Bedeutung dieses Flußnamens als südliche Grenzlinie eines imaginierten Großdeutschen Reiches – „von der Etsch bis an...“ – ist zum Glück kaum noch präsent.
Eine Besonderheit des alpinen Klimas macht den Vinschgau zu einer Insel der Trockenheit. Der vorherrschende Wind, den die Einheimischen „Oberwind“ nennen, kommt aus Nordwest. Auf seinem langen Weg über den Kontinent regnen sich die Wolken ab und verlieren die letzte Feuchtigkeit beim Anstieg über die Ötztaler Alpen, die den Vinschgau nach Norden begrenzen. Für das Tal bleiben so nur durchschnittlich 550 Millimeter jährlicher Niederschlagsmenge übrig. Das ist etwa soviel wie in der knochentrockenen Sahelzone südlich der Sahara.
Andere Regionen in den Alpen können 1.600 Millimeter und mehr aufweisen. Die Folge sind trockene Talböden und kahle Hänge auf der Sonnenseite des Vinschgaus. Ohne Bewässerung gäbe es hier nur stachlige Pflanzen, Wacholder und eine Trockengrassteppe.
Bereits die ersten Siedler mußten das Land bewässern, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. In den nachfolgenden Jahrhunderten wurde in mühsamer Gemeinschaftsarbeit ein weitverzweigtes System von kleinen Kanälen, Rinnen und Leitungen geschaffen. Nur so konnten die Felder bewässert, das Vieh getränkt und die übrige Wasserversorgung sichergestellt werden. Die Römer, die das Tal später besiedelten, bauten das Kanalsystem aus und nannten das Wassernetz aqualis. Diese Bezeichnung schliff sich im Laufe der Zeit zum noch heute gebräuchlichen Wort Waale ab.
In großen Höhen, oft nur wenig unterhalb der Gletscherregion, sammelt sich das Wasser in der sogenannten Einkehr, der Fassungsstelle. Durch einen Sandfang von Treibholz und Geröll gereinigt, wird das Wasser dann im Tragwaal, der aus oben offenen Holzrinnen oder befestigten kleinen Kanälen besteht, zu Tal „getragen“. Oft müssen diese Waale mit abenteuerlichen Konstruktionen an Felswänden vorbeigeführt oder auf schmalen Brücken über Schluchten geleitet werden, um ein möglichst gleichmäßiges, sanftes Gefälle zu gewährleisten. Teilweise werden enorme Entfernungen zurückgelegt. Der längste ist der Marlinger Waal mit immerhin zwölf Kilometern.
Unten im Tal wird das Wasser nach strengen Regeln, die oft auf uralte Vereinbarungen und Urkunden zurückgehen, auf die einzelnen Grundstücke verteilt. Die Bewässerungszeiten eines Roadtages (von lateinisch rota = Kreis) werden in jeweils zwölf Tag- und Nachtweilen eingeteilt und unter den Dorfbewohnern ausgelost.
Heute sind die meisten dieser Schellen verstummt. In den letzten Jahrzehnten wurden fast 80 Prozent der alten Waale durch moderne Rohrleitungen aus Beton und durch Beregnungsanlagen ersetzt. Erst in jüngster Zeit hat man den ökologischen, kulturhistorischen und touristischen Wert des althergebrachten Bewässerungssystems erkannt und erhält die verbliebenen Waale.
Aus den Waalwegen, auf denen früher die Waaler ihre Kontrollgänge machten, sind bequeme Spazier- und Wanderwege geworden. An den kleinen Fließen entlang lassen sich ohne große Mühen weite Teile des Vinschgaus, des Burggrafenamtes und der benachbarten Täler erkunden. Reinhard Kuntzke
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