: Wer die Mohr hat, hat die Tor
■ Der TuS Niederkirchen gewinnt das Finale um die deutsche Meisterschaft 2:1 nach Verlängerung gegen den TSV Siegen und ein pfälzisches Weindorf steht Kopf
Niederkirchen (taz) – Das Dilemma des Gerd Neuser: Wohl hat er fast ausschließlich Spielerinnen, die nicht nur zu den Besten gehören, sondern schlicht die besten hierzulande sind. Doch erstens taten die, als es galt, nicht ihre Pflicht und Schuldigkeit. Und zweitens hatten die anderen die Mohr. „Eine Heidi Mohr“, sagte der Trainer des TSV Siegen, „muß man eben 100 Minuten ausschalten. Uns ist das heute nur 99 Minuten und 50 Sekunden gelungen.“
Richtig hager sah der ansonsten eher barocke Blumengroßhändler aus, einen Punkt in weiter Ferne fixierend, vielleicht Südostasien, wohin die als Titelträger ausgesetzte Reise führen sollte. Dreimal in Folge hatte der 49jährige mit dem TSV die Meisterschaft gewonnen, viermal insgesamt, und es gab eigentlich keinen Grund, warum am Sonntag nicht Titel Nummer fünf hätte folgen sollen. Souverän wie stets hatte man die Nordgruppe der Bundesliga angeführt, locker sich im Halbfinale des FSV Frankfurt entledigt, das Finale kulant gegen 60 Prozent der Nettoeinnahmen den Pfälzer Dorfverein TuS Niederkirchen ausrichten lassen. Erstens, hatte Neuser gesagt, „war das jetzt dreimal in Siegen“, und somit ein Wechsel naheliegend, zweitens „besser für den Frauenfußball“ und drittens „ist es im Endeffekt eh egal“.
Was keineswegs überheblich spekuliert war: Der TSV Siegen hat den höchsten Etat der Liga, die professionellsten Strukturen und weder sind seine Frauen in die Jahre gekommen noch satt.
Im Gegenteil: Mit den Neuzugängen Silke Rottenberg als Nachfolgerin von Nationaltorfrau Marion Isbert, Mittelstürmerin Manuela Kubat (beide vom Rivalen Grün-Weiß Brauweiler), Frankfurts bester Kraft Britta Unsleber und der Wolfsburgerin Doris Fitschen, die nicht nur DFB- Trainerin Tina Theune-Meyer für die Branchenbeste hält, hatte Neuser nicht nur den schnöden Erfolg angestrebt, sondern dabei löblicherweise auch den Versuch unternommen, den kickenden Frauen ein neues Niveau zu erschließen.
Was auch klappte – zeitweise. Nur plötzlich nicht mehr, als es gegen die vermeintlich Schwächeren darauf angekommen wäre. Warum? „Wie das im Fußball eben so kommt“, sagte Neuser, der das Ganze als eine Art Ausrutscher sieht. 1:0 in Front, dann holte Britta Unsleber kurz nach der Pause einen Kopfstoß von Niederkirchens Schweizer Nationalspielerin Wölbischt gerade noch mit der Hand aus dem Tor. Oder auch nicht. Jedenfalls war das in der Stellenbeschreibung nicht für sie, sondern für die Torfrau Rottenberg vorgesehen, was Unsleber Rot bescherte und Niederkirchen einen Strafstoß, den – klarerweise – Heidi Mohr verwandelte.
Zehn Spielerinnen waren danach zuwenig für Siegens laufintensives Kombinationsspiel, und gegen die von Niederkirchens Trainer Edgar Hoffmann versprochenen „80, und wenn es sein muß, auch 100 Minuten Kampf“.
Den Rest erledigte zwei Minuten vor dem Ende der Verlängerung Heidi Mohr. Die hernach selbstredend auch die gefeierte Heldin war, als zunächst der Kanzler Kohl, als Oggersheimer Nachbar, Niederkirchen im allgemeinen und seinen Saumägen im besonderen zugetan, gratulierte, und man sich danach vom Spielort Limburger Hof auf den Dorfplatz des Winzerörtchens aufgemacht hatte, um einen Erfolg zu feiern, „der für unseren Ort unbeschreiblich ist“. (TuS-Vorsitzender Franz- Josef Schalk)
Für die Frau mit dem sensationellsten Torquotienten seit dem Nördlinger Gerhard Müller war der Sieg in zweierlei Hinsicht wertvoll. Erstens hatte es sie gewurmt, daß „die Siegenerinnen dachten, sie hätten das Spiel schon von vornherein gewonnen“. Zweitens, womit die Sache eine weiterreichende Dimension bekommt, „hieß es bisher immer, nur die Nordgruppe kann Fußball spielen“. Jetzt kommt plötzlich und unerwartet der Meister aus dem Süden. Was nicht gleichbedeutend damit ist, daß besagtes Vorurteil widerlegt wäre.
An der Weinstraße jedenfalls hat man am Siegen Gefallen gefunden: Demnächst läßt die Winzergemeinde ihren Frauen ein kleines Stadion erbauen, damit die nicht immer auswärts kicken müssen. Der Etat, bisher bescheiden mit 120.000 Mark ausgewiesen, soll erhöht werden, drei neue Defensivkräfte vorhandene Schwachstellen weiter lindern, und der Hauptsponsor, eine Türen- und Fensterfirma, hat noch am Sonntag einen Scheck überreicht und will sich in dieser Woche mit dem Vorsitzenden Schalk über eine Ausweitung der Beziehungen unterhalten. Und Heidi Mohr bleibt selbstverständlich, wo sie hingehört: in der Pfalz, um auch in zukünftigen Zeiten, dem TSV Siegen die Gegenüberholmöglichkeit zu verbauen.
Im größten Siegestaumel mußte Heidi Mohr ihre ganze Zweikampfstärke zur Anwendung bringen, um einem begeisterten Fan ihr Meistertrikot wieder abzuluchsen. Denn, so wußte die dreimalige Bundesliga-Torschützenkönigin: „Für die neue Saison haben wir nur zwei neue Sätze Trikots, da brauchen wir die alten noch.“ Peter Unfried
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