: Ein Provenzale in der Großstadt
■ Zur großen Chabaud-Retrospektive in Wuppertal, die die Bedeutung des vermeintlichen Vertreters des französischen Expressionismus neu benennt
Wer die südfranzösische Papststadt Avignon in Richtung Süden verläßt, trifft kurz hinter der Brücke von Rognognas auf das kleine Dörfchen Graveson. Hier, in der provenzalischen Idylle, verbrachte ein Maler die längste Zeit seines Lebens, der viele Jahre vergessen schien und jetzt auf Initiative des Bochumer Galeristen Alexander von Berswordt-Wallrabe und mit Hilfe von Museen in Saarbrücken, Wuppertal und München wiederentdeckt wird. Dabei waren die Bedeutung des Gerbersohnes und späteren Landwirtes Auguste Chabaud und sein wesentlicher Beitrag zur Fortentwicklung der europäischen Kunst im 20.Jahrhundert wenigstens in Fachkreisen nie bestritten. Seine Bilder waren in der großen Übersichtsausstellung über den französischen Fauvismus und den deutschen Frühexpressionismus 1966 in Paris und München ebenso vertreten wie 1970 in denselben Städten in der umfangreichen Bilderschau „Europäischer Expressionismus“. Chabaud hängt in den französischen Museen neben Picasso, Matisse und Derain, zu denen er während seiner Zeit in Paris Kontakt hatte. Bis heute gilt er dadurch vor allem als einer der wenigen Vertreter des französischen Expressionismus.
Die Wuppertaler Ausstellung, die erste große Werkschau in Deutschland, 38 Jahre nach dem Tod Chabauds, zeigt anhand von 120 Gemälden und rund 100 schlecht zusammengepferchten Zeichnungen – viele aus Privatbesitz und zuvor kaum öffentlich zu sehen –, daß diese Einordnung seines vielschichtigen Werkes zu eindimensional ist.
1882 in Nimes geboren, besuchte er schon im Alter von 14 Jahren die „École des Beaux Arts“ im nahen Avignon. Drei Jahre später wechselt er nach Paris. Das Studium an der dortigen „Académie Julian“ können die Eltern aber schon bald nicht mehr bezahlen. Dennoch genügt der kurze und später wiederholte Aufenthalt in der Hauptstadt, Chabauds Stil grundlegend zu beeinflussen. Hatte er sich vorher an impressionistischen Vorbildern und Sujets orientiert („Haus am Kanal“, 1902), so prägt jetzt die Großstadterfahrung die Arbeiten des Siebzehnjährigen. Der Provenzale Chabaud fühlt sich fremd in Paris, und er zeigt dies deutlich in seinen Bildern. Dunkle Straßenszenen, von kräftigen orthogonalen und horizontalen Linien dominierte Hafen- und Brückenbilder wie die „Treppe zum Montmartre“ (1907) wechseln ab mit sehr persönlichen Schilderungen des Pariser Nachtlebens, seiner Halbwelt der Hotels und Huren. Rot wird zur bestimmenden Farbe dieser Periode, es gibt die aggressive Fremdheit, die Chabaud in Paris spürte, ebenso wieder wie die geheimnisvoll erotische Rätselhaftigkeit der Großstadt („Flur im Hotel“, 1907/08). Anders als bei dem Amerikaner Edward Hopper manifestiert sich dabei in Chabauds Bildern deutlich das Bewußtsein, nicht dazuzugehören. Chabaud nimmt dennoch inzwischen an zahlreichen Gruppenausstellungen teil, seine Werke hängen neben denen von Henri Matisse, Raoul Dufy und George Rouault. Trotzdem zieht es Auguste Chabaud zurück in die Provence. In Graveson übernimmt er den elterlichen Bauernhof „Mas de Saint Martin“, der heute ein Chabaud-Museum beherbergt.
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Der Maler arbeitet als Landwirt, um seine Familie zu ernähren, und versteckt einen Teil seiner in Paris entstandenen Werke bis in die fünfziger Jahre vor den Kindern und Enkeln.
In der Hauptstadt, wo seine Bilder nach wie vor in jeder wichtigen Ausstellung vertreten sind, gilt Chabaud inzwischen als der „Einsiedler von Graveson“. Von kurzen Ausflügen in die postkubistische Abstraktion hat sich der Maler längst verabschiedet. Sein Thema ist nun die provenzalische Heimat mit ihren hellen Gebäuden unter tiefblauem Himmel. Auch diese Werkgruppe, die weit von geschmäcklerischem Kunsthandwerk entfernt steht, präsentiert die Wuppertaler Ausstellung in ihren Hauptwerken. Insgesamt ist so neben der Werkschau Auguste Chabauds unwillkürlich auch ein Panorama Frankreichs zwischen Paris und Provence entstanden. Stefan Koldehoff
August-Chabaud-Retrospektive. Von-der-Heydt-Museum Wuppertal: bis 18. Juli 1993
Lenbachhaus, München: 15. September bis 24. Oktober 1993
Katalog: 250 Seiten mit 120 Farb- und zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. Richter Verlag, Düsseldorf. Paperback, 45 DM
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