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Nazi-Karteien werden heute noch geführt

■ Gesundheitsdienst im Dienst des III.Reichs / Bürokraten ließen die Nazi-Maschine laufen / Das Beispiel Bremen-Nord

Die Spur aus dem III. Reich führt über eine Fußnote bis in die unmittelbare Gegenwart. In der Broschüre Gesundheit im Dienst der Rasse, die Gesundheitssenatorin Irmgard Gaertner (SPD) und der Historiker Asmus Nitschke gestern vorstellten, heißt es: „Nur am Rande sei hier vermerkt, daß in der Zentralkartei des Bezirksgesundheitsamtes die in der NS-Zeit angelegten Karteikarten noch heute weitergeführt werden.“

Der Leiter des Bezirksgesundheitsamtes Bremen-Nord, Dr. David Klemperer, bestätigt auf Anfrage: Karteikarten des amtsärtzlichen Dienstes, die zwischen 1940 und 1945 im Bremen- Norder Gesundheitsamt angelegt worden sind, werden heute noch benutzt. „Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich hier vor zwei Jahren angefangen und das gesehen habe“, erklärte Klemperer. Auf den Akten wird u.a. nach „Rassenzugehörigkeit“ (“Jude“, „jüd. Mischl.“ „Sonst artfremd“) und nach „sozialen Auffälligkeiten“ gefragt: z.B. „arbeitsscheu“, „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“ oder „wegen Verschwendung entmündigt“).

Wer heute beim öffentlichen Gesundheitsdienst beispielsweise ein Pflegegutachten erstellen lassen oder Pflegegeld beantragen muß, könnte durchaus auf seine alte Akte stoßen. „Das ist datenschutzrechtlich mehr als bedenklich“, räumt Klemperer ein. Deshalb bereitet das Bezirksgesundheitsamt zusammen mit dem Hauptgesundheitsamt ein neues Karteisystem vor, das fünf Einzelkarteien ohne Querverweise führen soll. „Wir haben allerdings 40.000 Akten hier im Amt“, erklärt Klemperer weiter, und das Personal für eine komplette Aufarbeitung aller Akten nach neuen Kriterien ist knapp. Automatisch gelöscht werden Akten erst 30 Jahre nach dem Tod eines Menschen oder zu seinem 100jährigen Geburtstag, wenn das Todesdatum unbekannt ist.

Daß der öffentliche Gesundheitsdienst so nah am III. Reich gebaut hat, ist Resultat seiner Geschichte. Denn das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“, das für die moderne Struktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes maßgeblich ist, stammt aus dem Jahr 1934. „Gestrichen wurden nach dem Krieg nur die rasse-ideologischen Abschnitte“, erklärte Gaertner gestern.

Erstmals ist jetzt in Bremen die Geschichte des öffentlichen Gesundheitsdienstes im III. Reich am Beispiel Bremen- Nord aufgearbeitet worden. Ergebnis ist ein „unspektakulärer Alltag und die Banalität der Verwaltung“ (Nitschke), mit der die rassistischen Ideologien der Nazis vor Ort umgesetzt worden sind. „Es sind nicht die Ärzte mit den schwarzen SS-Stiefeln, sondern die kritiklosen Mitläufer, die die Rasseideologie der Nazis umgesetzt haben“, sagt Nitschke.

Die Ergebnisse, die in der Arbeit zusammengetragen sind, dokumentieren, wie reibungslos sich das öffentliche Gesundheitswesen den rassistischen Ideologien der Nazis untergeordnet hat: 70 Prozent aller 1935 in Bremen beantragten Zwangssterilisationen sind von Amtsärzten beantragt worden. Gesundheitspolitische Daten im Sinne der Rassenideologie wurden in zentralen Erbdateien gesammelt. Bereits 1943 war ein Drittel der Bremen Norder Bevölkerung in dieser Kartei erfaßt. Alle Heiratswilligen mußten durch die „Schleuse“ beim Gesundheitsamt, um sich „Eheunbedenklichkeitsbescheinigungen“ ausstellen zu lassen. „Erbkranke“, „Asoziale“, „Nicht-Arier“ u.a. hatten Heiratsverbot. Grundlage für die Bescheinigungen war ein „Intelligenztest“, in dem u.a. diese Fragen gestellt wurden: „Welche Staatsform haben wir jetzt?“, „Was darf man mit gefundenen 5 — 20 — 500 Reichsmark machen?“

Das Amt als „kleines Rädchen“, das die Nazimaschinerie am Laufen hielt: Diese These stützt auch ein zweiter „Arbeitsbereich“, für den das Gesundheitsamt im Dritten Reich zuständig war: Ab 1942 organisierte es die die „Seuchenbekämpfung“ in insgesamt 15 Lagern, in denen gut 5.000 Menschen (Stand: 1942) eingepfercht waren und Zwangsarbeit leisten mußten. mad

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