: Immerzu rennen
Siebeneinhalb Monate als „Borba“-Korrespondentin im belagerten und umkämpften Sarajevo ■ Von Natka Buturović
Sarajevo: letzter Kreis der Hölle, eine Stadt als Konzentrationslager. Häuser und Menschen beschädigt. Ständig vom Tod bedroht, ohne ausreichend Lebensmittel und Wasser, ohne Elektrizität und Heizung, ohne Nachrichten von Angehörigen und Geliebten, in Trauer um ihre Toten, in Sorge um Verwundete und Kranke. Die Bürger Sarajevos halten sich nur noch instinktiv am Leben – biologischer Automatismus.
Ich war Journalistin, Kriegsberichterstatterin aus Sarajevo vom ersten Tag an bis Mitte November 1992. Sarajevo ist meine Geburtsstadt, meine Eltern, meine Geschwister und Freunde sind noch da. Ich bin gegangen, weil ich für meine Angehörigen zur Belastung wurde.
Der Abschied brach mir das Herz. Noch elender wurde mir, als ich sah, wie wenig die Welt über Sarajevo vor dem Krieg weiß und daß die Stadt nur eine Schlagzeile in den Nachrichten ist: Soundsoviele Granaten schlugen in der Stadt ein, soundso viele Flugzeuge mit Hilfsgütern landeten auf dem Flughafen.
Zeljko Vuković, der Bürochef von Borba in Sarajevo, und ich waren die letzten von uns, die von hier aus berichteten. Die Zentrale der Zeitung ist in Belgrad, also in Serbien. Unsere anderen Kollegen gingen nach Pale oder einfach nur nach Hause. Unser Zuhause war Sarajevo. Was ist das für ein Gefühl, als Kriegsberichterstatterin aus Sarajevo zu berichten? Am allerersten Tag des Krieges lag ich vor dem bosnisch-herzegowinischen Parlamentsgebäude auf dem Boden, und die Kugeln flogen mir um die Ohren. Aus solcher Lage kann man nicht berichten. Hundert Meter weiter war mein Büro. Ich rannte los.
Von da an verging nicht ein Tag in diesem Krieg, an dem ich nicht rannte. Der Scharfschütze auf dem Hügel kann deine Augenfarbe sehen. Er wartet auf einen günstigen Moment. Wenn du rennst, sind deine Chancen besser.
Wie fühlt sich das an, von einem Scharfschützen getroffen zu werden? Jemand sagte mir: „Im ersten Moment fühlt es sich an, als ob man geschubst wird, kräftig geschubst. Der Schmerz kommt später.“ Ich hatte Angst. Angst heißt: ein verkrampfter Magen, dein ganzer Körper möchte schrumpfen. Ich hatte nicht so sehr Angst vorm Sterben. Um mich herum wurde so viel gestorben. Aber ich hatte Angst vor Verkrüppelung. Wenn das passieren sollte, so beschloß ich, würde ich mich umbringen. Freunde erzählten mir von den gleichen Beschlüssen. Aber ich kenne keinen, der es tat. Auf dem Weg zum Bunker rennt man mehr aus Verzweiflung als aus Angst. Wir hatten bald gelernt, die Richtung zu erkennen, aus der die Granaten kamen. Ich flüchtete mich in den Bunker, wenn es gar nicht anders ging. Die Granate, die dich tötet, hörst du nicht. Die anderen pfeifen. Mein Magen reagiert inzwischen schneller als mein Kopf auf solche Geräusche, selbst jetzt noch.
Ich hörte auch die Granate nicht, die meinen Mann traf. Wir waren auf der Straße. An einer Ecke trennten wir uns und jeder ging seine Richtung. Vielleicht nur 15 oder 20 Schritte. Dann eine unglaublich laute Explosion. Ich krümmte mich zusammen und drückte mich gegen die Mauer eines Hauses, wurde ohnmächtig, steckte mir noch schnell die Finger in die Ohren. Dunkelheit und Stille folgten, mein Körper war wie aus Blei. Wie lange dauerte das? Eine Sekunde, fünf Sekunden, eine Minute... Ich weiß es nicht. Gegen die Mauer gelehnt richtete ich mich auf. Ich mußte sehen, ob er überlebt hatte. Er hatte überlebt. Er half gerade einem Verwundeten in ein Auto und brüllte mir zu, irgendwo Schutz zu suchen. Erst am nächsten Tag sah ich, daß er selbst verwundet war.
Einmal ging ich an einer Schlange von Menschen vorbei, die für Brot anstanden, nur Minuten vor der Explosion, die zwanzig oder dreißig von ihnen tötete. Das war auf der Vaso-Miskin-Straße, und ich erinnere mich, daß ich noch dachte: „Wieso stehen diese Leute hier? Sie müssen doch wissen, daß gerade erst eine Granate auf dem Marktplatz in der Nähe eingeschlagen hat.“ Es gibt eine Regel, daß immer drei Garanaten aufeinander folgen. Wenn du die erste hörst, lauf los, die zweite ist schon unterwegs. Und so entkam ich.
Die Schreie der Sterbenden hörte ich nicht. In meinen Ohren dröhnte es. Erst als ich in irgendeinem Büro gelandet war und im Fernsehen sah, was passiert war, begriff ich, daß ich gerade dem Tod entronnen war. Das nennt man Glück. Ich hätte unter den Schlangestehenden einen Freund erkennen können und für einen Schwatz stehenbleiben. Plötzlich fror ich. Ich fror die ganze Zeit in diesem Krieg, selbst an den heißen Tagen im Frühling und im Sommer. Ich zog meine Winterjacke nie aus. Selbst jetzt kann ich mich nur schwer von ihr trennen.
Nicht nur einmal wurden Menschen direkt um mich herum getötet. Jedesmal schloß ich die Augen und drehte mich um. Ich konnte ihnen nicht helfen. Anderen konnte ich helfen und tat es. Als es in den Läden kein Brot mehr gab, stand ich jeden Morgen um halb sechs auf und brachte Schüsseln voll Teig zu der Bäckerei, deren gasgefeuerte Öfen noch funktionierten. Ich nahm meinen Hund auf diesem Gang immer mit. Ich ging auf den Markt auf der Suche nach Lebensmitteln. Ich pflückte Löwenzahnblätter für Salat, suchte die Stadt nach Wasser ab und trug es nach Hause.
Im Krieg ist man abhängiger voneinander als im Frieden. Man teilt miteinander. Man backt zusammen Brot, man holt zusammen Wasser. Wer eine Kerze hat, teilt ihr Licht mit anderen. Nachbarn kommen zusammen und hören gemeinsam Nachrichten vorm Transistorradio, auch die Kinder sind dabei. Man teilt sich den Ofen im Hof. Jeder darf auf ihm kochen, solange er Holz zum Feuern mitbringt. Und auch wer das nicht mehr kann, darf weiter auf ihm kochen.
Man erzählte mir, daß in Sarajevo im Winter in den kältesten Nächten zwei, drei Familien in dem einen Zimmer, das man heizen konnte, zusammen schliefen. Viele Menschen litten an Frostbeulen. Auch wenn man nicht daran stirbt, wird man doch ein Leben lang Schmerzen haben.
Informationen, Fakten: woher kriegt man sie und wie? Regionale Radiosender wie „Orlobodjenje“ und „Vecernje novine“ halfen, und Pressekonferenzen. Solange wir Strom hatten, sahen wir Fernsehen, Sarajevo TV, Pale TV, TV Belgrad. Aber die Kriegspropaganda blühte schnell – wir mußten an unseren Ruf und den unserer Zeitung denken. Die eiserne Regel unseres Berufes ist, jede Information zu prüfen, doppelt und dreifach wenn nötig. Wir prüften Informationen durch Anrufe bei Freunden, Verwandten, Leuten, die in der Nähe der Ereignisse lebten. Viele halfen uns.
So ging es bis zum 2. Mai 1992. Danach geriet Sarajevo unter pausenlosen Beschuß. Sieben Tage lang konnten wir die Bunker nicht verlassen. Wir wußten nichts mehr voneinander. Die Postämter waren zerstört. Telefone schwiegen. Für ein funktionierendes Telefon mußte man kilometerweit laufen. Eine Freundin bot mir ihre Wohnung an, mit Telefonanschluß. Am Anfang fuhren Zeljko und ich per Anhalter hin. Bäcker, Müllmänner, Männer der verschiedenen Milizen nahmen uns mit. Später bot uns ein Nachbar sein Auto an, wann immer wir es brauchten. Aber Benzin zu finden war nicht einfach. Wir überprüften Meldungen und Informationen durch mündliche Kontakte. Noch gab es genug Menschen, denen wir vertrauen konnten. Aber unsere Berichte wurden kürzer. Schließlich wurde der Telefonverkehr zwischen Sarajevo und der Außenwelt ganz abgeschnitten.
Am 17. September 1992 veröffentlichte das Innenministerium von Bosnien-Herzegowina eine Stellungnahme, die in allen Zeitungen Sarajevos abgedruckt und im Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde. Da hieß es, Borbas Korrespondenten sind Spione für die jugoslawische Armee. Die bosnische Regierung sprach kein Arbeitsverbot aus, man ließ uns die Akkreditierung. Aber für jeden, der für „die große Sache“ kämpfte, der nicht mochte, daß Borba in Belgrad erschien und der davon träumte, mit der Entdeckung der „Spione“ zum Nationalhelden zu werden, waren wir zu Freiwild geworden. Wir hatten alle drei Kriegsparteien verärgert. Jeder hatte seine eigenen Gründe, aber der Hauptgrund war immer: du bist keine(r) von uns.
Wir riefen im Ministerium an und forderten, daß man uns entweder verhaftet oder die Erklärung über uns zurücknimmt. Wenn ihr Beweise habt, geht vor Gericht damit, sagten wir. Wenn nicht, nehmt die Anschuldigungen zurück. Das Ministerium tat beides nicht. Eine Mauer des Schweigens schloß sich um uns, alle Türen gingen vor uns zu. Wir wurden zu lebenden Zielscheiben. Kurz danach hörten wir auf, Berichte zu schicken. Wir hatten nicht das Recht, das Leben unserer Funkerfreunde zu gefährden. Ich zog in Zeljkos Wohnung. Ich hatte kein Recht, die Sicherheit meiner Familie aufs Spiel zu setzen. Harte Worte von Kollegen und Bekannten waren schlimm genug. Das Schweigen war furchtbar.
Name und Adresse unserer Zeitung wurden von unserer Bürotür gerissen. Wir versteckten uns nicht, wir vermieden nur öffentliche Orte. Dann fanden wir, daß unsere Belgrader Kollegen alles getan hatten, um uns einen sicheren Weg aus Sarajevo zu organisieren. Bei unserer Ankunft in Belgrad hörten wir von den Bemühungen unserer Kollegen und ausländischer Journalisten um unsere Sicherheit. Wie wir herausgekommen sind? Über das Land großzügiger Freunde. Wir brauchen keiner der drei Kriegsparteien für irgend etwas zu danken. Den Rest wird man nach diesem Krieg erzählen.
Ein Belgrader Freund fragte mich: „Wie geht es einem, wenn man die Hölle von Sarajevo hinter sich gelassen hat und wieder in der normalen Welt lebt?“ „Es gibt keine normale Welt mehr“, habe ich ihm geantwortet. Monate nach meinem Weggang aus Sarajevo lebte ich in zwei Welten gleichzeitig, als wäre ich zwei Menschen. Nicht nur einmal ging ich auf Leute in der Straße zu, die Brot trugen und fragte sie, wo um alles in der Welt sie Brot herhatten. Daß Wasser aus dem Wasserhahn kam, verwirrte mich zutiefst. Bei Geräuschen, die mich an das Pfeifen der Granaten und den Knall von Explosionen erinnerten, zieht sich mir der ganze Körper zusammen. Meine Alpträume dauerten lange. Ich habe siebeneinhalb Monate im Krieg in Sarajevo gelebt. Werden die Menschen, die Sarajevo überleben, je wieder normal sein? Ich weiß es nicht.
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