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Der Retter als Totengräber

Punktuelles und Zusammenhängendes zur aktuellen Berliner Theaterdebatte. Eine Erwiderung auf Ivan Nagels „grauenhaften Vorschlag“, das Maxim Gorki Theater mit Ende der kommenden Spielzeit zu schließen  ■ Von Klaus Pierwoß

Vor einer Woche hielt Ivan Nagel, Professor an der HdK und nach der Wende Verfasser des Gutachtens über die Berliner Theaterlandschaft, einen Vortrag im Schiller Theater, in welchem er die Schließung des Maxim Gorki Theaters zum Spielzeitende befürwortete. Nach Ablauf der Intendanz von Albert Hetterle, nach dem Abgang Thomas Langhoffs werde es kaum möglich sein, die Tradition des Hauses fortzusetzen, erklärte Nagel. Noch schwieriger sei es, sich „etwas Neues auszudenken“. Klaus Pierwoß, Chefdramaturg des Maxim Gorki Theaters, antwortet auf den im Tagesspiegel vom 21. August nachgedruckten, von Nagel selbst als „grauenhaft“ bezeichneten Vorschlag.

1.

Die dem Tagesspiegel-Artikel von Ivan Nagel vorangestellten Angaben zu seiner Person unterschlagen seine wichtigste Funktion: Ivan Nagel ist nach wie vor der Berater in Theaterfragen für den Kultursenator Roloff-Momin; wie institutionalisiert oder informell er diese Rolle spielt, ist dabei unerheblich – der Senator gibt ihn Dritten gegenüber als seinen gewichtigsten Experten aus. Nagel ist der Vordenker dessen, was der Senator in praktische Politik umsetzt. Daß es zwischen beiden auch Widersprüchliches und Unbekanntes gibt, ist keine Widerlegung dieser theaterpolitischen Zweisamkeit. Um so mehr Gewicht kommt den Ausführungen Nagels zu, nachdem er in den Tagen größter Turbulenzen auf der Berliner Szene schmerzlich vermißt wurde. Daß sein Vortrag im Schiller Theater dem Tagesspiegel schon vorweg zum Abdruck überlassen war, verdeutlicht das strategische Kalkül, mit dem er wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrt.

2.

Nagels Rettungsvorschlag für das Schiller Theater ist nur eine Verlagerung des Theatersterbens auf das Maxim Gorki Theater, in den Ostteil der Stadt, wo es nach Meinung einiger auch hingehört. Nach dem Ende der Intendanz Hetterle sieht Nagel eingestandenermaßen keine Fortsetzung mehr für das Gorki Theater. Aus seiner eigenen Ratlosigkeit schlußfolgert er das Ende dieses Theaters. Da geht mir seine Selbstüberschätzung doch zu weit. Wäre nicht Nagels Rückzug aus der Berliner Theaterpolitik die richtigere Konsequenz? Er würde sich selber Krankheiten und uns allen Theatertode ersparen.

3.

Es ist geradezu aberwitzig, den Geist Hetterles zu beschwören und aus seiner erfolgreichen Intendanz das Ende des Maxim Gorki Theaters abzuleiten. So wie niemand auf die Idee kam, die Komische Oper nach dem Abgang Walter Felsensteins oder die Schaubühne nach der Abwanderung von Peter Stein zu schließen, so wird es auch in (hoffentlich noch ferner) Zukunft niemandem einfallen, nach dem Rückzug von Volker Ludwig das Grips-Theater oder nach dem Intendanzende von Thomas Langhoff das Deutsche Theater zu schließen.

4.

Seit drei Jahren wissen Roloff-Momin und Nagel, daß Albert Hetterles Intendanz im Sommer '94 endet. Obwohl es zahlreiche Interessenten und Bewerber für die Hetterle- Nachfolge gibt, (was für die Anziehungskraft dieser Bühne spricht) – außer mir waren Katharina Thalbach, Frank-Patrick Steckel, Adolf Dresen, Wolf Bunge im Gespräch – konnten sich Roloff-Momin/Nagel für niemanden entscheiden. Wenn ihnen der Kreis der Personen nicht gut genug war, so hätten sie neue Kandidaten ausfindig machen müssen. Das ist eine selbstverständliche Erwartung an die Gestalter von Theaterpolitik. Aber Nagel ist ein ästhetischer Gourmet der Highlights und Festivals. Große Theatertalente wie Leander Haußmann (der andernorts als Intendant gehandelt wird), Andreas Kriegenburg oder Martin Kusej kommen erst dann in sein Blickfeld, wenn sie bereits in Berlin oder beim Theatertreffen angekommen sind. Entdeckerspürsinn fehlt ihm.

5.

Auch die Erklärung des Senators, erst nach dem wirklich vollzogenen Vertragsabschluß mit Albert Hetterle (im Mai '93), einen neuen Intendanten für das Gorki Theater zu suchen, ist nur ein Vorwand und kein wirkliches Argument für seine Untätigkeit, er hätte parallel arbeiten müssen. Die von ihm angekündigte Interimszeit ist verhängnisvoll, möglicherweise die Einleitung der Selbst-Abwicklung und des Sterbevorgangs für diese Bühne, zumal man sich dann nicht mehr mit dem intendantischen Schutzschild Albert Hetterle auseinandersetzen muß. Aus der verhängnisvollen Interimszeit an der Volksbühne wie am Berliner Ensemble gibt es doch nur eine Konsequenz: solche Interimszeiten tunlichst zu vermeiden.

6.

Nagels Schlußfolgerungen für das Maxim Gorki Theater sind widersinnig: Wenn ein Intendant erfolgreiche Arbeit geleistet hat, dann ist auch losgelöst von seiner Person und Amtszeit einiges vorfindlich, das ein Potential für die Zukunft ist. Kontinuität und Bruch wären für den neuen Intendanten des Maxim Gorki Theaters angesagt.

Ist es ein Zufall, daß Ivan Nagel die Einladungen zum Theatertreffen als Kriterium für die künstlerische Leistungsfähigkeit anführt, aber bei seiner Aufzählung die beiden Einladungen des Maxim Gorki Theaters mit „Mein Kampf“ und „Die Übergangsgesellschaft“ unterschlägt?

Weil Ivan Nagel befürchtet, daß seine durch elitäre Arroganz markierte Position von Kritikern und Theaterzuschauern auf breiter Basis abgelehnt wird, verkleidet er seinen Sterbevorschlag in ein Lob für Albert Hetterle und verlagert den Exitus in die Nach-Hetterle- Phase.

Noch immer ist es Zeit, für das Maxim Gorki Theater schnellstmöglich einen Intendanten zu bestellen. Das Vorschieben dieser Entscheidung macht das Theater mit jedem Tag kränker.

7.

Das Maxim Gorki Theater hat Vorzüge, um die es von vielen Theaterleuten beneidet wird: eine ausgezeichnete Lage am Boulevard Unter den Linden. Eine Größe, die von den architektonischen Gegebenheiten und der personellen Besetzung überschaubar und menschlich ist. Einen Apparat, in dem die Reibungsverluste nicht die künstlerische Produktivität beeinträchtigen. Ein gewachsenes Ensemble, zu dessen Erneuerung und Erweiterung Albert Hetterle alle Türen aufgehalten hat. Ein Repertoire mit über 20 hauptsächlich zeitgenössischen Stücken. Eine trotz überhöhter Eintrittspreise beachtliche Platzausnutzung von fast 70 Prozent. Diese Bühne hat die geringste Pro-Platz- Bezuschussung aller Berliner Sprechtheater. Allerbeste Voraussetzungen für eine Weiterarbeit, die man an anderen Theatern erst schaffen müßte.

8.

Was ich am Maxim Gorki Theater exemplarisch beschrieben habe, gilt insgesamt für die Roloffsche Theaterpolitik: langanhaltende Versäumnisse kippen in Aktionismus um. Bei der überstürzten Schiller Theater-Schließung hat Roloff von einer „Notoperation am offenen Herzen“ gesprochen. War es nicht vielmehr so, daß der vermeintliche Finanzinfarkt der Stadt zum Todesstoß für die Staatlichen Schauspielbühnen geführt hat? Das Schiller Theater war schon lange krank – es wurde dennoch in den bestehenden Strukturen opulent weiterfinanziert. Eine Neuerung versprach sich der Theaterträger nur von wechselnden Intendanzen mit problematischen Personalkonstellationen, dabei war die letzte Etappe Roloffs eigenes Werk. Wie immer der Konflikt um die Staatlichen Schauspielbühnen ausgeht, die Strukturreformen der öffentlich finanzierten Theater sind notwendig und überfällig. Wer nicht rechtzeitig reformiert, der sorgt fürs Absterben – das geht an die Adresse von Theaterträgern, Theaterleuten und Gewerkschaften. Aber schon ist in Berlin absehbar, daß die Strukturreformen bei den anderen öffentlichen Theatern nicht in Angriff genommen werden. Die Versäumnisse mit tödlichem Ausgang setzen sich fort.

9.

Der Begriff der Strukturreformen, bezogen auf die Theater, wird zuweilen wie ein nebelwerfender Begriff verwendet, weil er von sehr unterschiedlichen Interessen besetzt ist. Die Politiker verstehen darunter primär Einsparungen, die Theaterleute versprechen sich davon theatergemäßere Arbeitsverhältnisse und Organisationsstrukturen. Beides gehört aber sinnvoll zusammen. Und realisieren lassen sich diese Reformen nur in enger Zusammenarbeit von Theaterträgern und Theaterleuten (und deren Interessenvertretern). Der angegriffene Senator hat bisher versucht, die Finanzierungsmittel zu bewahren (was ehrenhaft ist), aber er hat keine Reformen initiiert.

Gefährlich ist, daß sowohl Theaterleute wie Politiker die Verhältnisse nach den Strukturreformen mit zu hohen künstlerischen oder kostensenkenden Erwartungen verknüpfen, wobei auch jeder Politiker weiß, daß für Strukturreformen zunächst einmal Rationalisierungsinvestitionen notwendig sind. Denn auch nach Erreichen eines strukturreformierten Theaters kann es Krisen in öffentlichen Haushalten geben, und die Theaterfinanzierung ist leider nur eine freiwillige Leistung der jeweiligen Theaterträger.

10.

Noch nie war der Konflikt zwischen Theaterleuten und Politikern in dieser Stadt so verschärft, noch nie war der Graben zwischen Theaterleuten aus Ost und West so groß wie in dieser Situation. Wer bricht die Starre auf, wer vermittelt zwischen den Fronten?

Der Senator ist abgetaucht. Keine Rücktrittsaufforderung, kein Appell, keine Kritik, keine Argumente können ihm Selbstzweifel bereiten oder ihn erschüttern. Wie ein Kultur-Sheriff haben er und seine Mitarbeiter sich mental eingebunkert und bekunden nur immer wieder mit aller Entschiedenheit ihre Abwicklungsenergie.

Und auch seit der Schließungsentscheidung spielt seine Behörde eine klägliche Rolle: Keinerlei Intentionen für eine aktive Reformpolitik. Dafür aber weitere Beschädigungen des Berliner Theaterklimas: die gerade bekanntgewordene Kündigung von Bernhard Minetti veranschaulicht, wie auch in einer Kulturbehörde administrative Korrektheit und bornierte Unmenschlichkeit in eins gehen können. Wo doch der Umgang miteinander ein entscheidender Indikator für das künstlerische Klima einer Metropole ist.

11.

Und die Reformvorschläge des Senatoren-Beraters, die vielleicht für manche etwas Bestechendes haben mögen, kommen über erste Ansatzpunkte nicht hinaus, bleiben vielmehr stehen bei der Neuformierung der besten Ergebnisse des Status quo. So weitgehend ich Nagels Diagnoseergebnisse über den Zustand der Staatlichen Schauspielbühnen zustimme, so weitgehend formuliere ich meine Skepsis gegenüber seinen praktischen Lösungsvorschlägen. Aus Platzgründen kann ich das nur an seinen Überlegungen zur Ensemble-Entwicklung exemplifizieren: Ensembles gibt es deshalb nicht mehr, weil sich wichtige Schauspieler um Regisseure gruppieren und damit zumeist eine Mitarbeit bei anderen Regisseuren ausschließen: Der Regisseur als Produktionsgruppen-Indentant im Kampf mit dem Apparat und dessen Geschäftsführer und im Kampf der Gruppen gegeneinander. Das ist die derzeitige interne Situation an vielen Theatern. Solange dem Geschäftsführer genügend Geldmittel zur Verfügung stehen, kann er diese hausinterne Kampf- und Konkurrenzsituation entschärfen. Daß Einar Schleef am Schiller Theater ohne Rücksicht auf vorherige Spielpläne („Faust“ war ja gerade) und ohne Rücksichten auf die Arbeitswilligkeit oder -verweigerung vieler Schauspieler mit einer großen Zahl von Externisten arbeitet, ist signifikanter und realistischer Ausdruck der gegenwärtigen Verhältnisse. Daß Schleef darauf beharrt, diese „Faust“-Inszenierung unbedingt und auch an jedem anderen Theater herauszubringen, macht deutlich, daß sich das Schiller Theater für ihn auf die Geld gebende Produktionsstätte reduziert, an einer weitergehenden Einbindung in Arbeitszusammenhänge und personellen Verflechtungen dürfte er kaum interessiert sein.

Daß aus seiner Gruppe und den Mitarbeitern von Katharina Thalbach eines Tages vielleicht ein Ensemble werden könnte, das halte ich für eine der „Notillusionen“, die Ivan Nagel leider selber verbreitet.

12.

Politiker verschiedener Fraktionen fordern jetzt die praktische Solidarität der Theaterleute. Sie, die so sehr auf ihr Entscheidungsrecht in Finanzfragen beharren, wissen angesichts der leeren Kassen nicht mehr weiter, delegieren die Lösung des Problems jetzt an die „Phantasie und Solidarität der Theaterleute“. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Landowsky geht allen Ernstes davon aus, daß zu den Eigeneinsparungen des Schiller Theaters in Höhe von zehn Millionen die übrigen Berliner Bühnen noch dreißig Millionen zusammenkratzen. Wie soll das gehen? Der vom Exitus bedrohte Krupp fordert Solidaritätsgeld beim Krause ein? Wer die komplizierte Struktur der Theaterhaushalte kennt, weiß, daß Landowskys Überlegung auf die Schnelle nicht realisierbar ist.

Ist es unbillig, die Forderung an die Theaterleute zu Solidaritätsbeiträgen auch an die Politiker zurückzugeben und sie zu mehr Phantasie bei der Finanzbeschaffung aufzufordern? Natürlich weiß ich, daß am Kabinettstisch kein Kollege des Kultursenators seinen Topf zur Disposition stellen wird, sondern seine schrumpfenden Bestände zäh verteidigt. Aber wenn nicht nur Uwe Lehmann-Brauns der Meinung ist, daß die Kultur das wichtigste Lebenselement dieser Stadt ist, müssen da nicht Senat und Parlament entsprechende Konsequenzen auch für den Haushalt beschließen?

13.

Mein konkreter Vorschlag für die Debatten vor und am 2. September: Aussetzung des Schließungsbeschlusses, Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur strukturellen und personellen Erneuerung der Schauspielbühnen – kurzfristige Einsparungen und langfristige Reformen müssen angestrebt werden (in zwei Monaten realisierbar). Sicher wird eine solche Arbeitsgruppe Elemente der Reformüberlegungen von Volkmar Clauß und Ivan Nagel berücksichtigen. Weil die Zeit drängt, muß man sich eben diese erforderliche Zeit nehmen.

14.

Seit dem 22. Juni '93 betreibt die Theaterstadt Berlin eine endlose Selbstverstümmelung. Alle müssen aufpassen, daß daraus kein Harakiri wird, das weit über die Theater hinausgeht.

Der Autor ist Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater und Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft. Ab Sommer 1994 wird er die Generalintendanz des Bremer Theaters übernehmen.

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