: Galizien, wie es leibt und lebt
Eine Reise in die Hauptstadt der Westukraine, Lviv. Das frühere Lemberg, eine Stadt der Minderheiten und Nationalitäten und des moderaten ukrainischen Nationalismus, zieht Heimwehtouristen aus Deutschland und Polen an. ■ Von Klaus Bachmann
Allein schon der Flughafen ist unverwechselbar: Das runde Türmchen mit sozrealistischen Fruchtbarkeitsstatuen um den Flughafenturm herum, die Vorkriegsbusse, die auf der Landebahn qualmen, wenn schon mal ein Flugzeug in Lviv landet, das riesige Wandgemälde über der Zollabfertigung, auf dem ein Demonstrationszug weißgekleideter, strahlender Hare-Krishna-Jünger ein riesiges rotes Banner durch eine offenbar antike Stadt trägt. An den Wänden hängen Werbeplakate für Aeroflot („Mit uns kommen sie durch die ganze Welt“), die mit ukrainischen Nationalwappen überklebt sind. Die ukrainische Flotte, die sich überwiegend aus von Polen ausrangierten Antonov-Propellermaschinen zusammensetzt, heißt seit der Unabhängigkeit „Ukrainische Luftlinien“ und fliegt nur ins Hartwährungsausland regelmäßig. Innerhalb der GUS geht ihr regelmäßig der Treibstoff aus, wenn Rußland gerade mal wieder den Hahn zudreht.
Wer in die Stadt will, kann ein Dollartaxi nehmen oder den Bus. Der ist eine klapprige Blechbüchse, die zu Anfang noch verlockend leer ist. Doch schon nach wenigen Haltestellen quillt die Büchse dramatisch vor Menschen über. Trotzdem hält der Fahrer an jeder Haltestelle. Neue Fahrgäste zwängen sich in die Türen, die sich bald nicht mehr schließen lassen. Kurzstreckenfahrer hängen sich außen an die Tür. Wer aussteigen will, beginnt schon zwei Haltestellen vor dem Fahrziel damit. Regelmäßig ein Kampf auf Knie und Ellbogen, bei dem der ganze Bus Zuckungen ausführt wie ein Schwarm in ihrer Dose erstickender Ölsardinen. Für Unkundige wird die Orientierung noch dadurch erschwert, daß man nur nach Gehör seine Haltestelle ausfindig machen kann, denn die Fenster sind für stehende Passagiere zu niedrig und außerdem hoffnungslos verdreckt.
Und dann ist man mitten in Galizien, das allen kommunistischen Umbenennungen zum Trotz immer noch so heißt: Halycyna auf Ukrainisch. Lviv, einstmals Lemberg, Lwow und Lvov, ist immer noch so galizisch wie kein Ort auf der Strecke zwischen Krakau und Tschernowitz. Im Krieg wurde es kaum zerstört, es ist nur verfallen. Alte Fassaden der großen Häuser am Freiheitsplatz und am Galizischen Markt erinnern an Wien und Krakau, die zahlreichen Kirchen und Klöster daran, daß Lviv nicht immer ukrainisch war: Hier lebten und leben bis heute neben ukrainischen Unierten und Orthodoxen noch orthodoxe Russen, römisch- katholische Polen, katholische und orthodoxe Armenier, Weißrussen und Juden. Über der Stadt thront die St.-Georgs-Kathedrale, die seit kurzem wieder im Besitz der Unierten ist, und auf dem Marktplatz herrscht ein polnischer Bischof in der römisch-katholischen Kathedrale.
Auch das Sprachgewirr erinnert an das Nationalitätengemisch des alten Galizien, besonders auf dem „Halicki Rynok“, dem Galizischen Markt, wo es alles das gibt, was in den staatlichen Läden der Stadt fehlt. Hier wird Russisch, Ukrainisch und Polnisch durcheinandergesprochen und häufig genug alles zusammen in einem Satz gemischt. Siebzehn Minderheitenvereine gibt es inzwischen in Lviv. Am stärksten vertreten sind die Russen, danach kommen die Polen, Juden, Armenier, ganz am Schluß die Deutschen, von denen es die meisten von der Wolga und aus Kasachstan hierher verschlagen hat.
Lviv gilt heute als das Piemont der ukrainischen Nationalbewegung „Ruch“, die Stadt, von der aus die Unabhängigkeitsbewegung ihren Anfang nahm, in der die Ukrainer Ukrainisch reden und nicht wie im Osten Russisch. Nicht immer dominierte Ukrainisch in Lviv, das ohnehin erstmals während der Februarrevolution von 1905 von der Russischen Akademie der Wissenschaften als eigene Sprache anerkannt wurde. Als Lviv noch polnisch Lwow hieß und Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien war, dominierten hier die Polen. An ihre Zeiten erinnert eine riesige Statue des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, an der damals so ziemlich sämtliche polnisch- nationalen Demonstrationen ihren Ausgang nahmen. Die Ukrainer haben sie stehenlassen, obwohl sie den 200 Meter entfernt stehenden ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko überragt, und sie haben Mickiewicz auch nicht – wie das die Litauer gern tun – nationalisiert. Sein Name prangt in lateinischen Buchstaben vom Marmor.
Als Polen nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig wurde, marschierten in Lemberg polnische Truppen ein. Zu dieser Zeit machten die Ukrainer in der Stadt gerade acht Prozent der Bevölkerung aus, doch die Gegenden um die Stadt hatten eine satte ukrainische Mehrheit. Aus Lemberg wurde Lwow, bis 1939 die Sowjetarmee im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes dort einmarschierte. Ein Bewohner der Stadt erinnert sich: „Tausende wurden nach Sibirien verschickt, vor allem Ukrainer und Polen.“ Die Galiziendeutschen wurden von Hitler heim ins Reich ausgesiedelt. In letzter Zeit kommen sie in Reisegruppen wieder in ihre Dörfer zurück. Als Touristen. Auch die Polen kommen zurück, die mit der Westverschiebung nach 1945 ihr Lwow endgültig verloren hatten. Inzwischen stellen sie das Gros der Lemberger Heimwehtouristen. Geschäftstüchtige Einheimische verkaufen ihnen polnischsprachige Bildbände und Landkarten mit den alten Straßennamen. Erst vor anderthalb Jahren wurde aus Lvov wieder Lviv, tauchten die blaugoldenen amtlichen Schilder an den öffentlichen Gebäuden auf, erschien der ukrainische Dreizack auf Wappen, Flaggen, Büchern und Abzeichen. In den zahllosen Bibliotheken der Stadt kehrten die im Ausland publizierten ukrainischen Geschichtsbücher aus den „Spezialfonds“ wieder in die allgemeinen Kataloge zurück. Seither wird die Geschichte der Ukraine wieder umgeschrieben. Neben den vergilbten russischsprachigen Kärtchen erscheinen immer mehr kleine weiße, im Westen gedruckte Karten über ukrainischsprachige Abhandlungen, die meist in der Emigration erschienen sind. Statt der Arbeiterbewegung, der Auswirkungen der Oktoberrevolution oder des Kampfs kommunistischer Partisanen in der Ukraine behandeln sie die Kosakenaufstände und die kurze Zeit der Westukrainischen Republik, die sich nach dem Ersten Weltkrieg einige Monate gegen polnische Truppen und Verbände der Bolschewiki behaupten konnte. Sie erscheinen meist in München oder Toronto. Hier sind die intellektuellen Hochburgen der ukrainischen Emigration.
Viele der polnischen Touristen erwartet ein Schock, wenn sie aus dem Bus steigen. Stefan-Bandera- Straße heißt eine der größten Straßen der Stadt, und auf dem Freiheitsplatz verkaufen fliegende Händler Monographien der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (abgekürzt UPA), die die meisten Polen nur als blutrünstige „UPA- Banden“ aus ihren Schulbüchern kennen, die in der Endphase des Krieges Massenmorde an der polnischen Zivilbevölkerung Wolhyniens begingen. In der Ukraine gelten Bandera und die UPA als Nationalhelden, die nicht nur gegen die deutsche Okkupation, sondern als Partisanen noch bis in die fünfziger Jahre gegen die Rote Armee kämpften. „Werdet Nationalisten!“ fordern Plakate an den Bäumen um den Freiheitsplatz die Passanten auf. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist der Begriff in der Ukraine keineswegs negativ besetzt; und nicht jeder, der sich in Lviv Nationalist nennt, ist deshalb minderheitenfeindlich, undemokratisch oder antisemitisch.
Ukrainischen Nationalismus ungefiltert bekommt man am ehesten auf dem Klumba mit, einem Ort, den es offiziell gar nicht gibt. Er existiert nur Samstag nachmittags und sonntags nach dem Kirchgang, wenn sich die Lemberger Rentner, Hausfrauen und ältere Werktätige auf dem Freiheitsplatz beim Schewtschenko-Denkmal treffen, auf den Bänken kleine Gruppen bilden, um mit Dominosteinen eine Art Kartenspiel zu spielen und über Politik zu debattieren. Im Nu entsteht so die Klumba, ein ukrainischer „Hydepark Corner“, auf dem jeder, der glaubt, etwas zu sagen zu haben, eine Gruppe Anhänger und Widersacher um sich schart und loslegt. Dazwischen verkaufen fliegende Händler Bandera-Büchlein, patriotische Abzeichen und historische Abhandlungen, die meist von der Freien Ukrainischen Universität in München kommen. „Was verkauft ihr hier?“ fährt ein älterer Mann im Monteursanzug einen der Händler an, als er entdeckt, daß die Landkarten, die dieser verkauft, russische Aufschriften haben, „das ist die Sprache der Okkupanten, ein ordentlicher Ukrainer verkauft so was nicht.“ „Wenn Du uns ukrainische druckst, verkaufen wir die“, gibt der Händler trocken zurück. Das folgende Streitgespräch mündet in die Frage, woran man einen ukrainischen Patrioten erkennt, am Herzen, an der Sprache oder an seinem Bücherschrank. Unter Eingeweihten gilt die Klumba als heimliche vierte Macht; hier nehmen Gerüchte und Nachrichten ihren Ausgang, mit denen in der Stadt Politik gemacht wird. Die Zeitungen erscheinen oft mit Verspätung, manche nur alle paar Tage, doch die Klumba ist immer auf dem laufenden, wenn auch längst nicht alles stimmt, was sie verbreitet.
Das zweite Zentrum der Altstadt ist der „Halicki Rynok“, der Galizische Markt, ein Innenhof gegenüber dem Bernhardinerkloster, am „Platz der Vereinigung“. Man hat ihn nicht umbenannt, weil ja nicht klar ist, auf welche Vereinigung er sich bezieht, auf die mit der Sowjetunion oder die mit der Ukraine. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird auf dem Galizischen Markt verkauft, vorwiegend aber Lebensmittel aus der Umgegend. Auf mit Zeitungen ausgelegten Ständen werden halbe Schweine, riesige Kalbshaxen und nackte Hühner feilgeboten, von denen man annehmen könnte, daß sie noch lebten, würden ihre Hälse nicht so hilflos nach unten baumeln. Alte Frauen verkaufen Selbstgenähtes, andere Ersatzeis, Waffeln, die mit einem süßen Zucker-Eiweiß-Gemisch gefüllt sind und in dampfenden Kartons aufbewahrt werden. Wenn es in einem der wenigen Cafés richtiges Eis gibt, bildet sich sogleich eine lange Schlange davor. Schlangen gibt es überall, die Inflation zwingt dazu, Bares sofort in Ware zu verwandeln.
Auch der Flughafen, fast in der Stadt gelegen, kommt nicht ohne Schlangen aus. Eine dichte Traube zeigt an, wo in der Halle, die aussieht wie der ausgeschlachtete Maschinenraum einer bankrotten Fabrik, die Abfertigung beginnt. Gigantische Gepäckstücke werden auf eine Waage gehievt und eingecheckt nach Sydney und Singapur, mit dreimal Umsteigen. Der Flug zurück nach Warschau hat eine halbe Stunde Verspätung, der Abflug verzögert sich, weil jemand die rostige Blechtür zum Flugfeld statt mit einem Schloß mit einer Schraube verschlossen hat und die Grenzer in der Eile keinen Schraubenschlüssel auftreiben können. Einem stämmigen Amerikaner, der die ganze Zeit nur den Kopf schüttelt und verständnislos grinst, hält sie schließlich doch nicht stand. Eine der fahrenden Blechdosen stoppt klappernd und dieselqualmend und liest die Passagiere auf. Beim Start der großen Tupelev der polnischen Fluglinien dröhnt das ganze Flugzeug von den Erschütterungen der zahllosen Schlaglöcher in der Startbahn.
Bald verschwindet die Innenstadt von Lviv unter den Wolken, dann die großen Wohnburgen der Beinahe-Millionen-Stadt und schließlich die Dörfer, in denen ab und zu ein goldglänzender Punkt verrät, daß die orthodoxe Kirche gerade renoviert wird.
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