: Am Schreibtisch als Denker
Stalin, der „Great Dictator“ und Führer der Völker, und der Film – die Filmreihe „Ein Mythos und sein Bild: Der Stalinkult im sowjetischen Film“ ist an diesem Wochenende im Arsenal zu sehen ■ Von Oksana Bulgakowa
Stalin ließ sich nur bei offiziellen Anlässen filmen – auf dem Mausoleum an Feiertagen oder bei Staatsbegräbnissen. Aus der Entfernung und nur von einer bestimmten Gruppe von Kameraleuten. Eine Einstellung vom 17. Parteitag blieb in Erinnerung, eine ungewollte Metapher: Stalin bekommt ein Gewehr aus Tula als Geschenk überreicht, er lächelt und zielt in die Kamera, die ihn aufnimmt. Wohl kaum eine Wiederholung der ersten Nahaufnahme aus „The great train robbery“ – von den Delegierten des Kongresses, die gegen Stalin etwa 300 Stimmen abgegeben hatten, überlebte nur ein Zehntel die nächsten Jahre.
In den dreißiger Jahren läßt Stalin sich öfter filmen, später werden seine Auftritte immer seltener. Er bestimmt, was aufgenommen wird und wie. Wenn die Dokumentaraufnahme nicht klappen wollte, etwa von der Rede auf der Parade am 7. November 1941, zu der das Team zu spät kam, hat er sie noch einmal gespielt – in einer improvisierten Dekoration, nicht auf dem echten Mausoleum. Doch das war eher eine Ausnahme, seine Rolle hatte er den Berufsschauspielern übertragen.
Zunächst war es der Jude Semjon Goldschtab, dann der Georgier Michail Gelowani, schließlich der Russe Alexej Diki, die Stalin spielen durften (mußten). Die Entscheidung für den Russen hatte Stalin getroffen, als ein Film über die Stalingrader Schlacht gedreht werden sollte. Alexej Diki – ein großer stattlicher Mann, korpulent und majestätisch – sprach gedehnte Moskauer Vokale und aristokratische Nasallaute. Er sollte von nun an den Führer der Völker darstellen, dem er überhaupt nicht ähnelte. Doch Stalin gefiel der Großrusse Diki mehr als der kaukasische Gelowani: Er wollte so aussehen und hat die Probeaufnahmen persönlich abgesegnet.
Aber nicht nur Darsteller wurden von Stalin bestimmt. Er selbst entwarf auch die Ikonographie, wie er zu zeigen sei, denn in seinen Darstellungen sollte der übliche Gegensatz in dem Führerbild – zwischen tapferem Krieger und weisem Denker – aufgehoben werden: Stalin trägt eine stilisierte, von ihm selbst entworfene Soldatenuniform, die an die Heldentaten der Kriegszeit erinnert, doch gezeigt wird er meist am Schreibtisch, als Denker – in der abgeschiedenen Stille seines Arbeitszimmers.
Stalin hat ein absolut monarchistisches Ritual des Schwurs erfunden – am Sarg seines toten Vorgängers Lenin, von dem er die Macht übernahm. Und er verwandelte dessen Grabmal, das Mausoleum, in seine Tribüne, um von ihr aus zweimal im Jahr – am 1. Mai und am 7. November – dem Volk zu erscheinen.
1934 wird mit dem Artikel von Karl Radek der Stalinkult begründet. Im Film passiert das etwas später – 1937, zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Dsiga Wertow dreht nach „Drei Lieder über Lenin“ nun das vierte für Stalin: „Das Wiegenlied“. Der Film entsteht gleich nach dem Verbot der Abtreibung 1936 und besingt die Mutterschaft. Frauen – Mütter aller Nationalitäten – strömen aus dem Süden, dem Norden, dem Fernen Osten nach Moskau, in den Kreml, zu Stalin. Er erscheint in dem Film als der Mann unter lauter Frauen – einer heldischen Gottheit ähnlich, die den Segen der Fruchtbarkeit erteilt, was für unfreiwillige Komik sorgt. Stalin geht es aber nicht um die Frauen, auch wenn er sich Mitte der dreißiger Jahre viel mit ihnen filmen läßt. Die einzige weibliche Kraft, die ihn verführt, ist die Macht; die einzige Frau, die er erobert – Mutter Rußland.
Zwar bekam Wertow nach dem Film eine neue Wohnung mit Bad (ein seltener Luxus im Moskau der dreißiger Jahre); doch Stalin war nicht von dem Film begeistert. Erst Romms Filme über Lenin, „Lenin im Oktober“ und „Lenin im Jahr 1918“ (1937/39), festigen den Stalinkult auf der Leinwand. Lenin ist im Film nur anwesend, um Stalin handeln zu lassen. Stalin hütet – als Chefredakteur der Prawda – die Worte Lenins bis aufs Komma. Er rettet Lenin im Versteck am Finnischen Meerbusen vor Kamenew und Sinowjew, während die Verräter ihn ausliefern wollen. Stalin leitet den Aufstand im Smolny, wogegen Lenin sich in einer konspirativen Wohnung versteckt. Und als Lenin nach dem Attentat darniederliegt, gewinnt Stalin auch noch den Bürgerkrieg. Er erscheint im Bild stets hinter Lenins Rücken, wie dessen Schutzengel. So vollendet er die Bildkomposition und rundet jede Szene mit einer Pointe ab. Stalin hat immer das letzte Wort und kann sich als einziger sogar Ironie leisten. Michail Tschiaurelis „Schwur“ und „Der Fall von Berlin“, die teuersten sowjetischen Nachkriegsfilme, zementieren Stalins Mythos, über den André Bazin so gnadenlos witzelte.
Doch nicht nur sein Bild im Film war seine Schöpfung – auch die ganze sowjetische Kinematographie hatte zunehmend Stalins Regie zu gehorchen. Er mischte sich persönlich in alles ein. Ohne ihn konnte allmählich kein Drehbuch mehr in Produktion gehen, kein Film ins Kino kommen.
Selbst während des Krieges fand er die Zeit, Drehbücher zu lesen, darin orthographische und ideologische Fehler zu korrigieren, neue Titel zu erfinden, Szenen aus einem Drehbuch in ein anderes umzustellen und fertige Filme abzunehmen. Um sich diese Arbeit etwas zu erleichtern, beschloß Stalin, ausschließlich Meisterwerke produzieren zu lassen – von den besten Autoren, Regisseuren und Komponisten, mit den besten Schauspielern und zu bestellten Themen. Die Filmproduktion schrumpft auf fünf Filme pro Jahr und einige abgelichtete Theaterinszenierungen. Der Film wird zur prädestinierten Kunst, weil er – dank seiner fotografischen Natur – am überzeugendsten Realität zu suggerieren vermag, auch das Nicht-Gewesene.
Das erkannte Stalin schon sehr früh. 1924 sagte er in einer Rede: „Film ist eine Illusion, doch sie diktiert dem Leben ihre Gesetze.“ Der Film ersetzte die Geschichte, die Stalin schrieb, und die Wirklichkeit. Sein Lieblingsfilm war „Wolga-Wolga“: Eine Gruppe von Laienkünstlern fährt auf einem alten Dampfer aus einem Dorf an die Wolga nach Moskau. Der Film rankt sich um ein Lied, das eine Briefträgerin komponiert hat und nun vom ganzen Land gesungen wird. Diese Story hatte später Shdanow zu dem „Aphorismus“ beflügelt: Das Volk kreiert die Musik, die Künstler schreiben sie nur auf.
Die unprätentiöse Musikkomödie war ein Kompendium der aktuellen Ideologie: 1936 wurde der Wolga-Moskwa-Kanal eingeweiht, der Traum Iwans des Schrecklichen von Stalin verwirklicht: Moskau wurde zur Hauptstadt von fünf Meeren erklärt und erschien in Alexandrows Film folgerichtig als Venedig. Die Laienkünstler erreichen es über breite Wasserstraßen, auf Dampfern, Motorbooten oder sogar schwimmend. Die Kopie schickte Stalin als Geschenk ins Weiße Haus. Roosevelt lud zur Vorführung verschiedene Berater ein, die nach einer codierten Botschaft suchen sollten. Entschlüsseln konnte sie keiner. Auch der CIA hat versagt.
Stalin selbst mochte amerikanische Gangsterfilme mit Action, verehrte „City Lights“ und „The great Walse“. Chruschtschow meinte in seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag, Stalin habe das Leben nur aus Filmen gekannt. Eine merkwürdige Umkehrung: Zunächst hatte er diese bestellt, dann nahm er seinen visualisierten Traum als Realität wahr.
„Ein Mythos und sein Bild: Der Stalinkult im sowjetischen Film“, vom 17. bis 19. September im Arsenal, Welserstraße 25.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen