Kiew: Demonstration gegen Abrüstung

■ Rücktritt Krawtschuks gefordert / Moskau annulliert Raketenabkommen

Kiew (AFP/taz) – Tausende ukrainische Nationalisten haben am Dienstag den Rücktritt von Präsident Leonid Krawtschuk gefordert. Nach Angaben der Organisatoren nahmen an der Demonstration vor dem Parlament in Kiew rund 15.000 Menschen teil.

Die nationalistische Opposition hat Krawtschuk Verrat an den ukrainischen Sicherheitsinteressen vorgeworfen, weil er Rußland gegen Teilerlaß immenser Schulden die ehemals sowjetischen Atomwaffen und die Hälfte der umstrittenen Schwarzmeerflotte überlassen will. Zugleich wurden auch Forderungen nach einem Austritt aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) laut. Ein etwa 7.000 Mann starkes Aufgebot an Sicherheitskräften schirmte das Gebäude ab. Nach Augenzeugenberichten versuchten radikale nationalistische Gruppierungen aus der Westukraine mehrfach, den Polizeikordon zu durchbrechen.

Zumindest eines der kritisierten Abkommen wurde aber inzwischen von Rußland selbst in Frage gestellt. Da der Text über die Zerstörung der ukrainischen Atomraketen durch Rußland in der Ukraine mit „wesentlichen“ Änderungen veröffentlicht worden sei, werde Moskau die Vereinbarung annullieren. Der Sprecher des russischen Außenministers vertrat zugleich jedoch die Ansicht, daß dadurch der „Sinn der Vereinbarung“ nicht in Frage gestellt werde.

Nach Ansicht Moskaus sieht der Vertrag den Transport „aller“ Raketen nach Rußland vor. In dem am 9.September in der ukrainischen Zeitung Kiewski Wedomosti veröffentlichten Protokoll sei dieses Wort jedoch nicht vorgekommen. Statt dessen habe es in einem Zusatz geheißen, daß das Abkommen nur „die im Text besonders erwähnten Raketen“ betreffe.

Noch vor der Moskauer Ankündigung, das Atomwaffenabkommen zu annullieren, hatte Krawtschuk in Kiew die Vereinbarungen mit Rußland verteidigt. „Konflikte mit Rußland bringen niemals einen Vorteil für die Ukraine“, begründete der Präsident sein Zugeständnis und fügte hinzu: „Wenn wir uns mit Rußland über die Schwarzmeerflotte nicht einigen, werden wir Schritt für Schritt unseren Einfluß auf die Krim (wo die Flotte stationiert ist) verlieren.“

Angesichts der ständig zunehmenden innenpolitischen Spannungen sprach sich Krawtschuk gleichzeitig grundsätzlich für Neuwahlen aus: „Wir müssen die Frage über vorgezogene Wahlen aller Machtorgane – und damit auch die der Wahl des Präsidenten – entscheiden.“ Mögliche Termine nannte er jedoch nicht.

Bei ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause stimmten die Abgeordenten auch über die am 9.September eingereichte Rücktrittserklärung von Ministerpräsident Kutschma ab. Obwohl der Premier erneut erklärte, unter den herrschenden Bedingungen nicht weiterarbeiten zu können, wurde die für einen Rücktritt notwendige Zweidrittelmehrheit nicht erreicht. 214 Abgeordnete stimmten für, 115 Abgeordnete gegen die Annahme des Angebots. Da laut Verfassung das Parlament einen Rücktritt des Premiers zustimmen muß, bleibt die Frage über die Auswechselung des Kabinettschefs offen.

Kutschma vertrat die Auffassung, die Regierung habe ihre Aufgaben angsichts der wirtschaftlichen Katastrophe nicht erfüllt. Die schwierigste Aufgabe sei die Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland. Der russische Markt sei für die ukrainischen Unternehmen lebenswichtig.