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Eine ziellos driftende Welt

■ Der chinesische Schriftsteller und Fotograf Ma Jian verließ vor sieben Jahren seine Heimat. Inzwischen sieht er seine ehemals sichere Insel Hongkong in Gefahr

Der 1. Juli 1997 wird bei den Bewohnern Hongkongs einen Identitätswandel auslösen: dann werden sie nämlich chinesische Staatsbürger. Ich selbst bin chinesischer Staatsbürger. Doch seit ich vor sieben Jahren nach Hongkong emigrierte, hat sich mein Identitätsgefühl verändert, wurde verschwommen. Noch immer kann ich nicht mit der Selbstverständlichkeit eines Einheimischen von mir behaupten: Ich bin aus Hongkong. Aber ich kann immerhin sagen: Ich lebe in Hongkong. Doch am 1. Juli wird Hongkong zu einer schwimmenden Insel, die über die Landkarte driftet.

Als ich vor sieben Jahren auf dieser Insel ankam, war sie noch eine Insel der Sicherheit, und die Zollgrenze erschien mir als eine schützende Mauer, undurchlässig für die Strahlen des despotischen roten Lichts. Ich war in Sicherheit, ich war frei. Mein Blickwinkel und mein Zeitgefühl wandelten sich, so als hätte ich einen time tunnel durchquert. Plötzlich schaute ich auf China, als läge es am Ende der Welt und der Zeit. Jetzt, wo ich auf einer schwimmenden Insel lebe, hat diese Aussichtsplattform für mich ihren Sinn als räumlicher und zeitlicher Fixpunkt verloren.

Während wir ungläubig Ausschau halten, rückt die vorherbestimmte Geschichte immer näher, man könnte auch sagen, sie kehrt noch einmal zurück, um uns zu holen. Dabei hat uns nie jemand gefragt, ob wir das Vergangene überhaupt annehmen und dahin zurückwollen, um etwas zu leben, das wir schon einmal gelebt haben. Das ist so, als würde man kurz vor dem Abitur plötzlich in den Kindergarten zurückgeschickt.

Chinesen lieben ihr Land, sie lieben ihr Zuhause. Doch weil ihre Seele verkümmert ist, haben sie auch ihre Würde verloren. Denn sie werden nicht mit einem Gefühl der Sicherheit geboren. Ganz im Gegenteil, Chinese sein heißt, der Welt zu verkünden, daß man hinnimmt, von jemandem beherrscht zu werden, daß man die Erfüllung elementarer menschlicher Bedürfnisse verwirkt hat und seiner Zeit und Epoche entfremdet ist.

In China war ich Künstler. Meine Feinde waren klar definiert. Ich verlangte von unseren Bürokraten meine Rechte und Freiheit. Das war wie auf einem Schlachtfeld, jeden Moment konnte der Himmel über einem einstürzen. Auch in den sieben Jahren in Hongkong bin ich Künstler geblieben, aber die Arena habe ich verlassen. Meine Wut ist äußerlich nicht mehr sichtbar, sondern steckt tief in meinem Körper, in meinem Herzen. Als Flüchtling habe ich meine Terra firma verloren. Auch meine Freundinnen haben mich verlassen, weil unsere Lebenstile, unser Lebensgefühl, einfach unvereinbar geworden waren. Ich bin eben schwierig: Hinter mir liegen die Gefilde des Sozialismus – da verlieren sie schnell den Mut.

Trotz allem werde ich Hongkong nicht verlassen. Jemand, der es gewohnt war, in einem Gefängnis zu leben, kann einem Leben in Freiheit ohnehin nicht mit Heiterkeit entgegensehen. Ma Jian

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