: Glückliche Rebellen
Was haben Kreativität und Dissidenz miteinander zu tun? Die Oxford Amnesty Lectures untersuchen die Macht und die Grenzen der Sprache und Literatur im Dienst der Menschenrechte. Wieviel Moral verträgt die Poesie? ■ Von Jörg Magenau
Im englischen Original lautete der Titel „The Dissident Word“. Für die deutsche Ausgabe wurde daraus „Das rebellische Wort“ – vielleicht deshalb, weil man hierzulande bei Dissidenten ohne Zögern an die „Ehemaligen“ aus dem Osten denkt. Das aber ginge bei den „Oxford Amnesty Lectures“ in die falsche Richtung. Diese renommierte, alljährliche Vortragsreihe lädt hauptsächlich Autorinnen und Autoren aus der Dritten Welt ein, um über Menschenrechte und Literatur zu sprechen. Die Eintrittsgelder kommen ai zugute. 1995 waren es André Brink, Wole Soyinka, Edmund White, Taslima Nasrin, Gore Vidal und Nawal El Saadawi, die den Zusammenhang zwischen Kreativität und Dissidenz erkunden sollten. Ihre Vorträge erschienen – wie bei diesen „Lectures“ üblich – im Folgejahr gesammelt als Buch und liegen nun auch in deutscher Übersetzung vor.
In ihren Ländern ergibt sich aus dem Schreiben als einem Akt individueller Freiheit zwangsläufig eine widerständige Haltung, die, wie Taslima Nasrin betont, in der Tradition der europäischen Aufklärung steht. In den nun vorliegenden Texten kehrt diese Haltung als Importartikel nach Deutschland zurück, wo Dissidententum bloß noch als Figur einer vergangenen Epoche zu existieren scheint.
Tatsächlich wären deutsche Autoren unter dem Titel „Das rebellische Wort“ kaum zu versammeln, ohne Hohn und Spott zu ernten. Wogegen sollten sie auch rebellieren, wenn schon „Engagement“ und „Gesinnung“ im Zusammenhang mit der Literatur fast als Schimpfworte gelten und Rebellentum allenfalls während der Pubertät geduldet wird? So gründlich rechnete die sogenannte Gesinnungsästhetik-Debatte Anfang der 90er Jahre mit „engagierter“ Literatur ab, daß seither nur noch das avancierte Experiment oder die vergnügliche Erzählung zulässig scheinen und Moral im Bereich des Ästhetischen hoffnungslos verstaubt wirkt.
Da verwundert es nicht, daß einige Autoren in den vergangenen Jahren der Bedeutungslosigkeit dadurch zu entrinnen suchten, daß sie in die Krisengebiete der Welt aufbrachen, um dort Risikobereitschaft zu demonstrieren. So berichtete Bodo Kirchhoff aus vorderster Front in Somalia, Hans Christoph Buch reiste nach Tschetschenien und Ruanda, zuletzt durchwanderte Peter Handke Serbien, um Gerechtigkeit zu finden. Bei aller Differenz eint diese Aufbrüche das Bedürfnis nach Engagement und dem, was als „Welthaltigkeit“ oder „Authentizität“ von der Literatur eben doch gefordert wird – und was in Deutschland nicht recht zu finden ist.
In der Tat hat Literatur in Diktaturen eine andere, brisantere Funktion. Der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka zum Beispiel schämt sich nicht, ein Moralist zu sein. Er berichtet in seiner „Lecture“ von einem Kampf an mehreren Fronten: gegen die Militärdiktatur in Nigeria, gegen die westliche, alles erklärende und relativierende Gleichgültigkeit und gegen den „fanatisierten Mob“ im eigenen Land. Soyinka weiß, wovon er spricht. Nachdem er in einem Artikel in Nigeria für Salman Rushdie Partei ergriffen hatte, demonstrierten islamische Studenten und forderten „Tod für Soyinka“. Langwierige Debatten über die Bedeutung der Literatur erübrigen sich in dieser Lage.
Soyinka vertraut ganz auf die aufklärerische Kraft des Wortes, setzt gegen den Fundamentalismus auf eindeutige sprachliche Verurteilung und Prinzipienfestigkeit. Euphemismen, Verständnis heischende Erklärungen hält er für Bequemlichkeiten des Denkens und für einverständige Komplizenschaft mit den Tätern. So spricht einer, für den es ums Überleben geht, für den zwischen Gegnern und Freunden, Richtig und Falsch, Gut und Böse zu unterscheiden nicht schwer ist. Diese Klarheit mögen Intellektuelle des Westens, denen ihre Unterscheidungskriterien abhanden kamen, beneiden. Sie haben sich aber, wie Gore Vidal süffisant bemerkt, ganz „gemütlich im gegenwärtigen Chaos eingerichtet, wo die Bedeutung der Bedeutung ein unendlich bequemes Thema ist und die Heisenbergsche Unschärferelation das unbestrittene Gesetz des Landes“.
Eine solch luxuriöse Haltung kann sich Soyinka nicht leisten. Und doch zweifelt er grundsätzlich an der „Friedensfähigkeit“ der Schrift und stellt damit sich und seine Profession viel radikaler in Frage, als seine wohlbestallten Kollegen im freien Westen das wagen würden. Sind Kategorisierungen, Trennungen, Feindschaften nicht erst eine Folge des geschriebenen Wortes, fragt Soyinka. In oral tradierten Kulturen gebe es keine Beispiele dafür, daß für ein wirkliches oder eingebildetes Verbrechen an einem heiligen Text die Todesstrafe zwingend vorgeschrieben sei. „Ist dies vielleicht eine lange unvermutete tödliche Eigenschaft des geschriebenen Wortes, die von Zeit zu Zeit hervorbricht wie ein latenter Virus oder untätiger Vulkan? (...) Es dreht sich natürlich alles um Macht und Herrschaft, für die das geschriebene Wort eine mystische Waffe ist, das magische Amulett irdischen priesterlichen Ehrgeizes.“
Literatur aber, die den Namen verdient, steht niemals auf der Seite der kanonisierenden Macht. „Dissidenz“, sagt die im amerikanischen Exil lebende ägyptische Professorin Nawal El Saadawi, „ist das Gegenteil von Macht, die von der Verantwortung für die Not der Menschen losgelöst ist.“ Dissidententum hat in ihren Augen nichts mit Heldenhaftigkeit zu tun: „Systemkritik ist eine natürliche Eigenschaft des Menschen. Wir alle werden als Dissidenten und kreative Menschen geboren.“ Das eine scheint in ihren Augen zwingend mit dem anderen verknüpft: Wer schöpferisch ist, setzt auf individuelle Kraft und entzieht sich damit den Ansprüchen einer wie auch immer gearteten Autorität.
So verstanden, enthält jede Kunst einen dissidenten Kern, ganz unabhängig von der Gesellschaftsordnung, in der sie entsteht. Das läßt sich ganz gut in Situationen des Übergangs beobachten, wie derzeit in Südafrika. Sicherlich, so der südafrikanische Schriftsteller André Brink, sei die Wirkung von Literatur auf abweichendes Denken in einer demokratischen Gesellschaft weniger dramatisch, der Feind unkenntlicher, das Schreiben weniger riskant. Dennoch blieben der Literatur im Einsatz für Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit – Begriffe, die Brink ohne zu zögern benutzt – genug Aufgaben, „solange die Gesellschaft unvollkommen ist“. – Und wann wäre sie das nicht?
Dabei redet er keineswegs einer schlichten Agitationsliteratur das Wort; ja, er beklagt die „Erosion der Phantasie“, die sich während der Apartheid ereignet habe, als die Literatur sich in bloßer Dissidenz und Oppositionshaltung zu erschöpfen drohte und von einer „Poesie der Suche“ zu einer „Poesie der Feststellung“ verflachte. Denn ihre Widerständigkeit ergibt sich für Brink gerade daraus, daß sie keine endgültigen Standpunkte bezieht, daß sie, um der Freiheit zu dienen, die Freiheit des Lesers akzeptieren muß und deshalb Interpretationsspielräume offenhält.
Das ist eine Beschreibung von Literatur, mit der sich auch hierzulande im „gemütlichen Chaos“ (Vidal) leben läßt. Sicher: eine Wiedergeburt der Figur des Intellektuellen als Hüter der öffentlichen Moral wird es nicht mehr geben. Und die „Vision des Ganzen“, die der Schriftsteller laut André Brink besitzen soll, um uns von der „Trivialität“ des Partikularen zu „erlösen“, ist nicht mehr als die vergebliche, religiöse Sehnsucht nach Sinn. Daß aber andererseits nichts gegen die Suche nach Zusammenhängen spricht, daß kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Moral und Ästhetik besteht, daß Kreativität und Dissidenz mehr miteinander zu tun haben, als das die Produktion von Gütern für den europäischen literarischen Markt derzeit erkennen läßt, das wenigstens kann man den Vorträgen zum „rebellischen Wort“ schon entnehmen.
Chris Miller (Hg.): „Das rebellische Wort. Oxford Amnesty Lectures“. Deutsch von Esmy Berlt, Bertolt Fessen und Cornelia Hacke. Christoph Links Verlag, Berlin 1997, 200 Seiten, 36DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen