Die Ästhetik des Widerstandes

■ Bremer Tanzherbst endet mit grandiosem Stück des S.O.A.P. Dance Theatre / Ovationen

Nichts als seine Ketten, glaubte einst der wundervolle Karl Chemnitz, habe der unterdrückte Mensch zu verlieren, wenn er sich denn nur erhebe gegen seine Knechtschaft. Nur die Ketten abstreifen: Doch es wird kalt dort, empfindlich kalt, wo Fesseln einst die Gelenke wärmten. Und die entfesselten Gliedmaßen wollen hierhin, dorthin, überallhin; alles zugleich, jetzt, wo keine Kette mehr sie abhält und bändigt. Frei-sein ist ein mühsames Unterfangen, und das Leben in den sicht- und unsichtbaren Fängen der Fesseln und ritualisierten Gewohnheiten ist zuweilen regelrecht angenehm. Denn allem Leid zum Trotz: Zumindest weiß man, daß der morgige Tag ein langweiliger und trostloser, ein gewöhnlicher Tag sein wird.

Laura Marini hat Angst. Große Angst. Gerade eben erst, schnipp schnipp, fielen sie wie zerschnittenes Klebeband von ihrem Leib, die Ketten. Nun steht sie da, umzingelt vom Leben, und tanzt doch so autistisch wie zuvor. Die Arme wedeln hilflos, die Beine tippeln ziellos über die Bühne, und die Augen suchen flehend. Vergeblich: Die schützenden Fesseln, in die Marini sich zu Beginn des Stücks „Khôra“selbst eingewickelt hat, sie kehren nicht mehr zurück. Und die Angst vor der Freiheit, sie bleibt bis zum Ende präsent auf der Bühne des Schauspielhauses. Mit „Khôra“ist dem portugiesischen Choreographen Rui Horta ein großer Wurf gelungen, und den drei Frauen und vier Männern seines Ensembles S.O.A.P. Dance Theatre Frankfurt gelingt es , die minimalistischen inszenatorischen Vorgaben Hortas mit beeindruckender Lebendigkeit zu füllen. Dank der großartigen Musik und Geräuschkollagen von Koen Brandt entfalten die sieben TänzerInnen ein weites Spektrum typologischer menschlicher Charaktere im Angesicht der eigenen Gewohnheitsmuster und der riesigen Hürden, die der Veränderung des Daseins im Wege stehen.

Ihnen allen ist eigen, daß sie allein nichts zu verändern vermögen an sich und an der Welt, wie sie ist: Der Rebell (Anton Skrzypiciel) mutiert zum Sisyphus, die Verspielte (Delphine Benois) hüpft in naiver Fröhlichkeit die ewig gleichen Bahnen, die Manische (Desirée Kongerod) verläßt niemals die vorgegebene Bahn, der Ängstliche (Peter Mika) versetzt immer wieder seinen Klebebandkäfig, um schließlich am neuen Ort doch nur das alte Gefängnis vorzufinden.

Der Ausweg? Es gibt ihn, in seltenen Augenblicken des Glücks, etwa in dem himmlisch schönen Duett von Kongerod und Dietmar Janeck. So neu ist das nicht, doch wird es auch durch die tausendste Wiederholung nicht falsch, und durch die hunderttausendste nicht minder plausibel. Zusammen, und nicht allein, solidarisch, und nicht in zerfleischender Konkurrenz – wenn es überhaupt gelingen kann, das Leben in Freiheit, dann nur mit dem wärmenden Gefühl, daß da jemand ist, der mich hält, wenn ich falle. Daß mich jemand berührt, wenn ich mich danach sehne.

Da, wo das nicht gelingt – und „Khôra“war voller beängstigender Bilder für das Scheitern der Freiheit – bleibt die Uniformität des durch andere gelebten Lebens, das Diktat des Soldatentums. In Reih und Glied robbten sie dann über die Bühne, uniforme Bewegungen, uniforme Gesichter, leer und tot, nur am Leben gehalten von gebellten Befehlen ohne Sinn und Zweck. Was bleibt: Mutig sein, auch wenn es weh tun kann. Sonst kommen wieder die Soldaten. Diese Autistenmacher.

Licht aus. Ovationen. Zum Teil stehend. zott