: Atom(waffen)freier Patriotismus in Blackpool
■ Die britische Labour–Partei mausert sich auf ihrem Parteitag zur Anti–Atom–Lobby / Nur der Zeitrahmen bleibt umstritten / Labour für einseitige Abrüstung, aber weitere NATO–Mitgliedschaft
Aus Blackpool Rolf Paasch
Blackpool im Oktober. Amüsement–Arkaden, Bingo und der Parteitag der Labour Party. Billiges Ferienvergnügen in der herbstlich–kühlen Nachsaison und wichtige Weichenstellungen in der politischen Vorsaison zu den nächsten Wahlen. Nebel an der Strandpromenade und hitzige Debatten im spätviktorianischen Konferenzzentrum des „Wintergardens“. Blackpool, ein kulturelles Überbleibsel aus - wenn es nach Frau Thatcher ginge - längst vergangenen Zeiten: Musikhallentradition statt High Tech und essiggetränkte Fish & Chips statt neuer kulinarischer Abenteuer der aufgeblähten Mittelklasse. Blackpool, alljährlicher Treffpunkt für die Aktivisten der Arbeiterbewegung zur kumpelhaft– streitsüchtigen Ortsbestimmung. Wer das Seebad im Nordwesten Englands nicht gesehen hat, der weiß nicht, was britische Arbeiterkultur ist. Zwei Themen beherrschten den diesjährigen Parteitag: der Ausstieg aus der zivilen Atomkraft und der Ausstieg aus der Realität atomarer Abschreckung. Schleichen aus der Atomenergie Der Ausstieg aus der Atomenergie ist beschlossene Sache, darüber waren sich fast alle einig. Nur die Delegierten der Atomarbeiter kämpften gegen die Schließung ihrer Industrie, als seien sie gegen den Fall–Out aus Tschernobyl völlig immun. Ihr Vorschlag eines Moratoriums beim Bau weiterer Atomanlagen scheiterte allerdings kläglich. Danach begann die Auseinandersetzung unter den Ausstiegsbefürwortern. „Greenpeace“, Arthur Scargill und seine Bergarbeiter sowie viele der Ortsgruppen wollten ein Zeitlimit: eine Legislaturperiode, fünf Jahre müßten genug sein. Der Parteivorstand dagegen sprach von „Dekaden“. Am Schluß fehlten den Sofortaussteigern am Mittwoch ganze 0,3 Prozent, um die Zwei–Drittel– Mehrheit zu erreichen, die den Fünf–Jahres–Plan automatisch ins Wahlprogramm gehievt hätte. Das Abstimmungsergebnis war ideal, um eine unleidliche Spaltung zu vermeiden. Arthur Scargill beanspruchte einen „moralischen Sieg“, und die Parteiführung behielt den beanspruchten „Ausstiegsspielraum“. Was bleibt, sind Zweifel am Ausstiegswillen einiger Parteiführer, allen voran des Schatten– Umweltministers John Cunningham, dem weiter eine „sichere Atomindustrie“ vorschwebt. Doch wer verfolgt hat, wie die Partei in den letzten fünf Jahren eine völlige Kehrtwendung in ihrer Energiepolitik vollzogen hat, der kann Labour eine fast „revolutionäre“ Fähigkeit zur Selbstkritik und zum Wandel bescheinigen. In der Frage eines besonderen Vertretungsrechts für Schwarze in der Partei und der Nordirlandpolitik werden solch radikale Veränderungen Jahrzehnte dauern, auch dies zeigte der diesjährige Parteitag. Was allerdings aus dem Ausstieg wird, wenn Labour nach den Wahlen (die voraussichtlich im nächsten Jahr stattfinden werden) eine Minderheitsregierung stellt, oder gar koalieren muß, darüber wollte niemand etwas voraussagen. Auf einem Parteitag, wo die Parteiführung mit neuem Image auf Sieg setzt, waren solche Gedanken tabu. In einem Bereich hat sich das neuerwachte Selbstbewußtsein Labours und die Flucht nach vorn bereits ausgezahlt: in der Verteidigungspolitik. Seitdem Parteiführer Neil Kinnock in Blackpool die einseitige Abrüstungspolitik Labours offensiv vertritt, wird das Land von einer Diskussionswelle erschüttert, deren Ausläufer auch das europäische Festland erreichen werden. Atomwaffenfreie Zukunft Am Donnerstag bestätigten die Delegierten die Politik einer Schließung aller atomaren US– Stützpunkte in Großbritannien oder das, was ihr Parteichef bereits am Dienstag in einer Populärversion unters Volk gebracht hatte: „Ich bin bereit, für mein Vaterland zu sterben, aber ich werde nicht zulassen, daß mein Vaterland für mich stirbt.“ Atomwaffenfreier Patriotismus gegen Frau Thatchers so absurden wie erfolgreichen Falkland–Patriotismus, der Labour 1983 den Wahlsieg gekostet hatte. Und diesmal war man sogar auf die zu erwartenden Attacken des Falkenzüchtervereins im US–Verteidigungsministerium vorbereitet. „Die haben doch nur Angst vor den politischen Implikationen für Westeuropa“, konterte die ehemalige Anführerin der Friedensbewegung Joan Ruddock. Bei Labour setzt man darauf, daß der Anti–Amerikanismus nach Frau Thatchers „Libyen– Hilfe“ mittlerweile so stark ist, daß die amerikanische Einmischung in britische Angelegenheiten auf die Urheber in Washington zurückfallen und Labour eher Stimmen bringen als kosten wird. Doch Labours einseitige Abrüstungsvorschläge werfen Probleme auf. Atomwaffenfrei innerhalb der NATO und konventionelle Aufrüstung? Da konnten viele Anhänger der Friedensbewegung (CND) nicht mehr zustimmen. Um von der Siegeseuphorie der Parteiaktivisten Abstand zu gewinnen, mußte man sich schon zum Vergnügungspark an der Strandpromenade aufmachen, wo sich die „Star Wars“–Maschinen unter den Halbwüchsigen weiterhin großer Beliebtheit erfreuten. Aber dank Labour werden sich demnächst auch die Thatcher–Generation die Frage stellen müssen, ob die vierzig Jahre lang nicht hinterfragte „Britische Atommacht“ und das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auch in den späten 80er Jahren immer noch „in“ sind. Ob sich mit der Aufwerfung solcher Fragen bereits Wahlen gewinnen lassen, bleibt allerdings abzuwarten.
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