: Aufbruch zu einer neuen Phase des Widerstands
■ Über 10.000 Menschen demonstrierten in Hamburg gegen die Inbetriebnahme des Brokdorfer AKW / Die Veranstalter sprachen von einer neuen Phase des Widerstands / Dezentrale Aktionen hielten die Polizei auch am Mittwoch in Atem
Aus Hamburg Ute Jurkovics
„Traurig und wütend müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß sich Betreiber und Politiker vom ersten Sturm der Empörung nach Tschernobyl erholt haben“, leitete ein Sprecher am Dienstagabend in Hamburg eine Fackeldemonstration ein, zu der für den Tag X zahlreiche Anti–AKW–Initiativen, politische Gruppierungen und die Hamburger Grünen (GAL) aufgerufen hatten. Trotz des kalten, regnerischen Wetters hatten sich nach Schätzungen der Veranstalter zwischen zehn– und fünfzehntausend Menschen zur Auftaktkundgebung auf dem Heiligengeistfeld versammelt, wo vor drei Monaten über 800 Kernkraftgegner von der Polizei stundenlang eingekesselt worden waren. Wenige Minuten vor Beginn der Demonstration war erst definitiv klar, daß die Preußen–Elektra die Kettenreaktion des größten nordeuropäischen Atommeilers ausgelöst hatte. Resignation kam trotz des verlorenen Symbols des Widerstands - drei Jahre lang konnte auf Grund der Protestaktionen das AKW nicht gebaut werden, die Inbetriebnahme verzögerte sich monatelang - nicht auf. „Die Scham der Betreiber ist vorbei, Brokdorf ist jetzt das Symbol für eine völlig aus dem Häuschen geratene Wirtschaftspolitik, darauf können wir nur mit dem Aufbruch zu einer neuen Phase des Widerstands reagieren“, erklärte der Specher unter großem Applaus. Aktionen, die sich in den Alltag eines jeden integrieren lassen, keine Festlegung auf „pflegeleichte“ Protestformen und das „buschfeuerartige Ausbrechen von Sabotageakten“, wie in den letzten Wochen an zahlreichen Mastbeschädigungen demonstriert, sollen zur neuen Qualität des Protestes gegen Atomanlagen gehören. Gegen Ende der überwiegend friedlichen Demonstration sorgten etwa 25 Vermummte für Aufregung. Am Rande des Abschlußkundgebungsorts, dem Altonaer Spritzenplatz, fiel eine Filiale der Hamburger Sparkasse (HASPA) der Zerstörungswut der Jugendlichen zum Opfer. Unter den Augen behelmter Einsatzmannschaften, die das Schauspiel in rund 50 Meter Entfernung beobachteten und filmten, plünderten die Randalierer die Sparkassenräume und verbrannten Teile des Inventars auf der Straße. Während sich einige Demonstrationsteilnehmer lautstark von dieser Aktion distanzierten, nahmen andere die Demontage der HASPA eher belustigt zur Kenntnis. Nervös reagierten vor allem die GALier, die die Presseschlagzeilen der nächsten Tage, anderthalb Monate vor der Wahl, schon vor Augen hatten. „Schwere Krawalle und Plünderungen in Altona“ - aus einem zerborstenen Schaufenster des nahegelegenen Kaufhauses Hertie hatten sich Passanten nach dem Ende der Demonstration mit Fernsehern und anderen Geräten eingedeckt - titelte denn auch das Hamburger Abendblatt am Mittwoch und die CDU rief auf zu einer Pressekonferenz über die innere Sicherheit, die sie schon vor dem Tag X angekündigt hatte. „Wir beurteilen die Demonstration als Erfolg“, hieß es in einer Presseerklärung der GAL; die Basis, das habe die hohe Teilnehmerzahl gezeigt, sei noch immer aktiv. Von den Ausschreitungen distanzierten sich die Hamburger Grünen jedoch, „diese Gruppierung“ hätte mit dem Kreis der Veranstalter nichts zu tun. Schon im Laufe des Tages hat ten zahlreiche dezentrale Aktionen für Verkehrschaos in Hamburg gesorgt. Spontane Blockaden hielten auch am frühen Mittwochmorgen die Polizei in Atem. Rund 40 Mitglieder aus verschiedenen Anti–AKW–Initiativen spielten mit den Beamten Versteck. Sie versperrten im Stadtteil Altona sensible Verkehrsknoten punkte, lösten dadurch Kettenreaktionen aus und verschwanden von den Kreuzungen, bevor die weitaus schwerfälligeren Einsatzbeamten ihrer habhaft werden konnten. An die Autofahrer wurden Flugblätter mit dem Tenor „Heute sitzen genervte, im Ernstfall verzweifelte Menschen in ihren Wagen und versuchen, die Stadt zu verlassen.“ Während die Hamburger Initiativen für den 25. Oktober zu einer Demonstration gegen das Kernkraftwerk Krümmel mobilisieren, lautet die landesweite Parole in Schleswig– Holstein „Großveranstaltung in Kiel am 18.10.“. Nachdem sich SPD, Grüne, Umweltorganisationen und autonome Initiativen zunächst nicht auf eine gemeinsame Demonstration einigen konnte, rufen sie jetzt mit verschiedenen Erklärungen doch zu einer Kundgebung „auf breiter Basis“ auf. Auch in Flensburg, Kiel und Bordesholm war es am Dienstag zu spontanen Protestaktionen gekommen. Zur Nachahmung wurde allenthalben eine Aktion von Kernkraftgegnern in Brokdorf empfohlen. Sie hatten Schrauben von einem Strommast demontiert und am Dienstag verkündet, daß sie weiterhin „mit Schraubenschlüsseln und Rohrzangen die Sicherheit unseres Stromnetzes überprüfen wollen“. Die Hamburger Polizei dagegen hielt sich mit Stellungnahmen deutlich zurück. Sie mußte sich von der Springerpresse den Vorwurf des Nichteingreifens gegen die „Gewalttäter“ gefallen lassen. „Die Behörde für Inneres“, so ließ der Polizeipressesprecher am Mittwochmorgen wissen, sei jetzt mit dieser Frage befaßt, dort würden Entscheidungen über Einsatzstrategien bei Demonstrationen getroffen. Einen Zuwachs an Fahrkartenverkäufen konnten die Hamburger Verkehrsbetriebe nach der Demonstration verzeichnen. Die Unsicherheit über das Verhalten der Polizei ließ lange Schlangen vor den Billet–Automaten im Altonaer Bahnhof entstehen. Niemand wollte als Schwarzfahrer für die geklauten Haushaltsgeräte und die kaputte Bank büßen.
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