: Armenviertel in San Salvador in Trümmern
■ Hunderte von Todesopfern und Tausende Verletzte bei Erdbeben in der Hauptstadt von El Salvador / Zahlreiche Gebäude stürzten ein / Regierung Duarte verhängt Preisstopp / Guerilla erklärt einseitigen Waffenstillstand
Aus San Salvador R. Leonhard
Hunderte Tote, Tausende Verletzte und Zehntausende Obdachlose ist die vorläufige Bilanz des verheerenden tektonischen Bebens, das Freitagmittag die Hauptstadt des Zentralamerikanischen Zwergstaates El Salvador heimsuchte. Ein Erdstoß um 11.50 Uhr, dessen Stärke mit 7,5 Richter–Grad angegeben wurde, brachte eine Anzahl mehrstöckiger Gebäude im Zentrum, aber vor allem Hunderte von Lehmhütten in den Armenvierteln der 700.000 Einwohner zählenden Stadt San Salvador zum Einsturz. Strom, Wasser und Telefon sind in weiten Teilen des Stadtgebietes noch im mer unterbrochen. Die Arbeiterviertel Mejicanos, Cuscatlancingo und San Jacinto im Norden bzw. Südosten San Salvadors bieten wenige Stunden nach dem schwersten Beben seit 1965 das Bild eines Trümmerfeldes. In manchen Straßen ist kein einziges stehendes oder zumindest kein bewohnbares Haus mehr zu finden. Aus den vorwiegend ebenerdigen Gebäuden konnten die meisten Opfer binnen weniger Stunden lebend aus dem Schutt geborgen werden. Die Familien sitzen jetzt mit den wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten, auf der Straße. Verwandte und Freunde helfen den Schutt abzutragen, um noch den einen oder an deren brauchbaren Gegenstand zu retten. 24 Stunden nach dem ersten Erdstoß haben die Obdachlosen weder Wasser noch Nahrungsmittel oder Decken bekommen. Eine Frau mit verbundenem Fuß humpelt durch die Straße: „Die Regierung hat nichts getan. Aber wann denken die schon an die Armen?“, fragt sie sich verzweifelt. Kleinere Beben lassen den Boden immer wieder erzittern und lösen Panik aus. Schwer beschädigt wurde das Planungs–, Justiz– und Unterrichtsministerium, der Präsidentenpalast mußte aus Sicherheitsgründen evakuiert werden. Auch die festungsgleiche US–Botschaft wurde eilends geräumt, nachdem ein Teil der Anlagen be schädigt wurde und ein gegenüberliegendes Gebäude, das Restaurant „Zum blauen Schwan“, fünf Meter im Boden versank. Als böses Omen wird gewertet, daß der „Erlöser der Welt“, eine weiße Christusstatue auf einem Obelisken, der als Wahrzeichen der Stadt gilt, von seinem Sockel gestürzt ist. Halb San Salvador verbrachte die Nacht auf den Straßen. Die einen, weil sie kein Dach mehr über dem Kopf haben, die anderen, weil sie sich vor Nachbeben fürchteten. Die Bergungsarbeiten konzentrieren sich auf das fünfgeschossige Ruben–Dario–Gebäude (benannt nach dem nicaraguanischen Nationaldichter) im Stadtzentrum, das zu zwei Dritteln vom vulkanischen Boden verschluckt worden ist. Rund 300 Personen sollen sich zum Zeitpunkt des Unglücks in dem Komplex aufgehalten haben, der neben einem Schuhgeschäft, einer Buchhandlung und einem Fast–Food–Cafe vor allem Arzt– und Dentistenpraxen beherbergte. Für die meisten der jetzt noch Eingeschlossenen besteht wenig Hoffnung, da aus dem rechten Teil des Gebäudes Flammen und dichter Qualm dringen: wer nicht von Trümmern erschlagen wurde, muß darin ersticken. Während dutzende Freiwillige, Rot–Kreuz–Aktivisten und ein eilends aus dem benachbarten Guatemala herbeigeeiltes Feuerwehrteam, unermüdlich die Nacht durcharbeiten, steht die salvadorianische Feuerwehr untätig daneben: kein Einsatzbefehl, heißt es, das Wasser sei ausgegangen. Einige der Eingeschlossenen machen sich durch Klopfzeichen bemerkbar; aber El Salvador hat kein geeignetes Bergungsmaterial und muß auf Hilfe aus dem Ausland warten. Ein Spezialtrupp aus Miami, der die neueste Bergungstechnologie vergangenes Jahr beim Beben in Mexiko erprobt hat, trifft erst Samstagfrüh ein. Insgesamt konnten in den ersten 24 Stunden 52 Überlebende aus dem Ruben–Dario–Gebäude geborgen werden. Vor dem Gerichtsgebäude, wo die identifizierten Leichen auf ihre Angehörigen warten, wurden bis Samstagmittag 170 Tote registriert. Man schätzt dort, daß die Zahl auf 1.000 ansteigen könnte. Vor der Friedhofsverwaltung stehen etwa 20 Leute Schlange, um für ihre Toten, die bereits in einfachen Holzsärgen bereitliegen, die Totenscheine ausstellen zu lassen. Der 62jährige Humberto Gomez hat die sterbliche Hülle seiner Tocher abgeholt, die von der umstürzenden Hausmauer erschlagen wurde. „Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten“, meint er bitter. „Sechs Jahre Krieg und jetzt bricht uns noch die Hauptstadt zusammen.“ Der Regierungssender Radio Cuscatlan gibt laufend Meldungen der Überlebenden durch, die ihre Angehörigen in der Provinz beruhigen wollen. Präsident Duarte hat in einer Pressekonferenz die Bildung mehrerer Katastrophenkomitees bekanntgegeben, die die Verteilung der Hilfsgüter kanalisieren sollen. Um Spekulanten das Handwerk zu legen, kündigte er einen allgemeinen Preisstopp an. Die Regierung hat sich als völlig unvorbereitet für den Katastrophenfall erwiesen. Die einzige Hilfe, die den Verletzten und Obdachlosen bisher zugekommen ist, kommt von unabhängigen humanitären Organisationen und der Kirche. Inzwischen treffen auch die ersten Hilfsgüter aus dem Ausland ein: Medikamente aus der Schweiz, ein Feldhospital aus Japan, Medizin und Gerät aus den USA, Bergungshunde aus Mexiko... Die Guerillafront „FMLN“, die am Tag des Bebens ihr sechsjähriges Bestehen beging, hat aus Anlaß der Katastrophe über ihre Untergrundsender eine einseitige Waffenruhe bekanntgegeben. Politisch gesehen kam das Beben für Präsident Duarte vorerst als Geschenk des Himmels, lenkt es doch von den Vorwürfen ab, seine Luftwaffe sei Gastgeber und Ausgangspunkt für die Nachschubflüge der nicaraguanischen Contras. Unabhängige Recherchen in El Salvador haben diesbezügliche Aussagen des über Nicaragua abgeschossenen CIA–Mannes Eugene Hasenfus bestätigt. Über mögliche politische Folgen des Bebens wird bisher nur spekuliert. Der Erdstoß, der 1972 Managua zerstörte, leitete den Anfang vom Ende der Somoza–Diktatur ein, das schwere Beben in Guatemala 1976 öffnete den Armen die Augen, um Ausbeutung und Korruption zu erkennen, und der Erdstoß, der im Vorjahr Teile der mexikanischen Hauptstadt dem Erdboden gleich machte, haben die seit 70 Jahren regierende „institutionelle revolutionäre Partei“ in die schwerste Krise ihrer Geschichte gebracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen