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Fortschritt zur Barbarei

■ Dreißig Jahre lang setzte die US–Atomenergiebehörde Menschen Strahlenversuchen aus

Im selben Jahr noch, als amerikanische Soldaten zusammen mit den anderen Verbündeten die Tore der Konzentrationslager öffneten und damit der Weltöffentlichkeit den Blick auf die hinter diesen Toren begangenen Greueltaten ermöglichten, begannen in den USA die ersten Menschenversuche mit atomarer Bestrahlung. Während die ersten Einzelheiten über die medizinischen Menschenexperimente der Nazis eine Welt jenseits aller moralischen und ethischen Bezugsrahmen offenbarten, starteten hochangesehene Wissenschaftler in den USA ihre Versuche. Sie sind in ihren noch zählbaren Dimensionen sicher nicht mit den massenweisen bestialischen Experimenten der Nazis zu vergleichen, sie entspringen aber demselben Geist. Sie haben ihre gemeinsame Wurzel in dem Wissenschafts– und Menschenverständnis, das nicht erst von den Nazis geschaffen wurde und deshalb mit dem Ende des Faschismus auch nicht begraben war. Die Grundfesten dieses Wissenschaftsverständnisses sind die heute mehr denn je quer durch alle Gesellschaftssysteme anerkannten Begriffe „Fortschritt“ und „Leistung“. Im Dienste des wissenschaftlichen Fortschritts - davon waren die US–Wissenschaftler subjektiv sicher überzeugt - mußte eben die Wirkung radioaktiver Strahlen am „lebenden Objekt“ Mensch erprobt werden. Und in voller Übereinstimmung mit dem Prinzip „Leistung“ glaubte man sich legitimiert, die zu Tode zu experimentieren, die nichts mehr leisten, die nicht mehr „funktionieren“, die „minderwertig“ sind: Alte, geistig Behinderte, Kranke, „Kriminelle“. Und so, wie wir erst heute mit 30jähriger Verspätung von den Strahlenversuchen in den USA erfahren, werden wir vielleicht erst übermorgen das wirkliche Ausmaß der Medikamentenexperimente in der Dritten Welt ermessen, die demselben Wissenschaftsverständnis entspringen. Vera Gaserow

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