: Ein Bedürfnis nach Veränderung
■ Die täglichen Versorgungsprobleme und die Eintönigkeit des Lebens schaffen latenten Unmut in der libyschen Bevölkerung - Teil II
Aus Tripolis Beate Seel
„Die Unterstützung, die Ghaddafi unter seinen Anhängern genießt, ist seit dem US–Angriff eher größer geworden“, konstatiert selbst ein Kritiker des libyschen Revolutionsführers. „Man kann jedoch von einer gewissen Polarisierung der Positionen sprechen. Diejenigen, die schon vorher unzufrieden waren, sehen sich in ihrer Meinung bestärkt. Es gibt Leute, die der Ansicht sind, Ghaddafi habe sich den Angriff durch seine Politik und seine großen Worte selbst eingebrockt, andere sprechen im privaten Kreis schon mal von einer klammheimlichen Freude. Aber Ghaddafi ist noch da, alles ist beim alten geblieben und insofern hat der Angriff nichts genützt.“ Das sind ganz andere Töne als in den Gesprächen mit libyschen Funktionären. Es gebe sehr wohl einen Wunsch nach Veränderung, selbst bei Anhängern des Regimes, erfährt man gelegentlich in Begegnungen mit Libyern, die nicht an den Schaltstellen der Macht und den Geldtöpfen sitzen. „Es muß etwas passieren“ oder „So kann es nicht weitergehen“ sind Sätze, die in derartigen Unterhaltungen wiederholt fallen. Doch der Unmut bleibt - gezwungenermaßen - auf der individuellen Ebene, mündet nicht in politische Aktion, wie auch die Frage möglicher Alternativen völlig offen bleibt und über Veränderungen in der libyschen Führung ähnlich herumspekuliert wird wie in unseren Medien. Von einer organisierten Opposition ist nichts zu spüren, was freilich nicht heißt, daß es sie nicht gibt; namentlich die Nationale Rettungsfront Libyens hatte 1984 einen vergeblichen Putschversuch unternommen. In Erfahrung zu bringen ist lediglich, daß die Zahl der politischen Gefangenen auf „mehrere tausend“ geschätzt wird. Die Begleitumstände von Treffen mit libyschen „Normalbürgern“, die diesen oder jenen Aspekt der Politik ihrer Regierung kritisieren und im Grunde doch nur über ihre alltäglichen Probleme reden, zeigt, daß die Repression gefürchtet ist. Es bedarf schon einiger Überlegung und Organisation, wie und wo man sich treffen kann, ohne daß es verdächtig wirken könnte. Des Nachts sind Polizeikontrollen gang und gäbe, bei denen in der Regel Führerschein und Wagenpapiere kontrolliert werden. In den Augen der Regimeanhänger gibt dies der Bevölkerung das Gefühl, in Sicherheit zu leben, in den Augen manch eines Gesprächspartners ist es jedoch Instrument der Überwachung. Wie begründet man notfalls z. B. mit einer Frau zu später Stunde unterwegs zu sein, die nicht die eigene Ehefrau und zudem noch ausländische Journalistin ist ? „Es muß ja gar nichts passieren“, sagt ein Gesprächspartner sichtlich entnervt, „aber allein die Tatsache, daß man auch nicht ausschließen kann, daß es ein Problem gibt, zeigt, in welch beklemmender Atmosphäre wir leben.“ Die Probleme mit der täglichen Versorgung sind es vor allem, die in solchen Begegnungen zur Sprache kommen. Für einen der Gesprächspartner, früher ein überzeugter Anhänger Ghaddafis, war es die Wirtschaftspolitik, die ihn zum Kritiker werden ließ, als nach 1977 die radikalen Veränderungen gemäß der „Dritten Universaltheorie“ eingeleitet wurden. Oft geäußert wird die Klage über den zeitlichen Aufwand, die notwendigen Dinge für die oft kinderreiche Familie zu besorgen. Zwar sind Grundnahrungsmittel wie Brot, Reis, Nudeln, Mehl, Zucker und meist importierte Konserven überall erhältlich. Doch frisches Obst und Gemüse heißt es, seien zu Stoßzeiten in Tripolis schnell ausverkauft, Ersatzteile häufig schwer zu bekommen. Luxuswaren seien kaum oder nur mit Beziehungen erhältlich. Eine Flasche des verbotenen Whiskys koste zum Schwarzmarktpreis sechzig Dollar, freilich gibt es auch selbstgebrauten Alkohol. Die Versorgungsprobleme werden in der Regel auf eine Kombination aus zentralstaatlicher Fehlplanung, Begünstigung und Ölpreisverfall zurückgeführt. Die Führung ist sich offensichtlich dieses Problems bewußt. So sieht man heute in Tripolis etwas mehr kleine Geschäfte als noch im Frühjahr. Politische Beobachter halten eine begrenzte Liberalisierung der Wirtschaftspolitik für den Gradmesser, ob sich künftig in Libyen innenpolitisch etwas ändert. Zum gegenwärtigen Zeit punkt wäre es jedoch verfrüht, von einem neuen Trend zu reden. Mit einer Verbesserung der Versorgungslage könnte die libysche Führung sicher einem Großteil der Unzufriedenheit beikommen. Dabei verfügt der Ölstaat Libyen, das viertgrößte Land Afrikas mit seinen nur 3,2 Mio. Einwohnern, im Grunde über gute Ausgangsbedingungen. Doch die Staatseinnahmen, die 1981 noch bei 21 Mrd. Dollar lagen, werden für das laufende Jahr nur noch auf vier bis fünf Milliarden geschätzt, eine Entwicklung, die auf den rapiden Fall des Ölpreises zurückgeht. Es ist kein Wunder, wenn die Volkskongresse im vergangenen März eine Kürzung der Importe um 6,3 Prozent auf 4,8 Mrd. Dollar für 1986 beschlossen haben und forderten, daß die Einfuhren auf notwendige Güter wie Nahrungsmittel, Medikamente und Ersatzteile beschränkt werden. Das heißt, daß die geschätzten Einnahmen für dieses Jahr knapp die Importkosten decken. In jedem Falle trifft das Sinken des Ölpreises Libyen weitaus stärker als der amerikanische Wirtschaftsboykott vom Januar und der Abzug der US–Ölgesellschaft im Juni. Ihre Anlagen in Libyen wurden nicht enteignet, sondern „eingefroren“ - man wartet offenbar auf bessere Zeiten. Das umstrittene gigantische Bewässerungsprojekt des „künstlichen Flusses“ gilt als humanitär und wurde vom Boykott ausgenommen. Auch der Rückgang des Außenhandels mit westeuropäischen Ländern - das Handelsvolumen mit der BRD ist auf ein Drittel des Standes vom Vorjahr gesunken - ist nicht in erster Linie auf politische Entscheidungen, sondern auf libysche Zahlungsschwierigkeiten zu rückzuführen. Vor allem für kleine Firmen, die sich monatelang mit dem Eintreiben ihrer Forderungen herumschlagen müssen, ist Libyen nicht mehr attraktiv. Dennoch ist die Lage nicht so schlecht, wie es zunächst den Anschein hat. Die Devisenrücklagen sind seit Mitte 1984 von 3,6 Mrd. auf knapp sechs Mrd. Dollar im Januar 86 aufgestockt worden (1980: elf Mrd.). Außerdem hält Libyen Anteile in 94 ausländischen Gesellschaften. Daher wäre das Land kurzfristig durchaus in der Lage, die Folgen des Ölpreisverfalls abzumildern. Vor diesem Hintergrund muß auch der Verkauf der Fiat–Aktien im Oktober gesehen werden. Doch bei Gesprächen in Libyen hat man den Eindruck, daß in den letzten zwei Jahren eine schleichende Verschlechterung eingetreten ist, wobei staatliche Sparmaßnahmen als persönliche Einschränkung erfahren werden. So drehen sich die Gesprächsthemen bei einer privaten Einladung zum Abendessen in einer Familie des gehobenen Mittelstands nacheinander um folgende Fragen: Die Einschränkung der Devisenzuteilung bei Auslandsreisen auf 300 Dollar (zuvor 1.000 Dollar); Klagen darüber, daß man vieles, was man braucht oder kaufen möchte, nicht bekommt (“Gibt es in Deutschland auch Schlangen?“); die schlechten Filme und das langweilige Fernsehprogramm. Die Töchter des Hauses, in der Mode dieses Sommers gekleidet und bestens unterrichtet über neue Tänze und Musik, die Jüngste mit kurzgeschnittenem Haar und dünnem Punk–Zöpfchen im Nacken, verweisen auf ein weiteres Problem. Die Mauern, die nach arabischer Bauweise das Grundstück umgeben, sind mehr als nur symbolisch. Hier ist, gerade für Frauen, ein Stückchen Freiheit im privaten Kreis möglich. Außerhalb der Mauern ist Schluß damit, nicht unbedingt aus politischen Gründen, denn Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen wird in Libyen im Vergleich zur Zeit vor der Revolution durchaus gefördert. Vielmehr aus einer islamischen Tradition heraus, die Frauen verhüllen und verstecken will und deren Macht in der Jamahiriya in den nur siebzehn Jahren seit der Revolution noch keineswegs gebrochen werden konnte. So kann die staatlich geförderte Form der Emanzipation, den Anschluß an ein Revolutionskomitee während der Schulzeit, der Besuch der Militärakademie für Frauen, auch ein Weg sein, Tradition und Familie zu entkommen. Nimmt man das Straßenbild in der Hauptstadt, so sind die Mauern offenbar noch häufig die eines Gefängnisses. Ein Spaziergang zur Flanierstunde am späten Nachmittag gerät zum reinsten Spießrutenlaufen. Wie auf einer Hühnerstange hocken die Männer unter den schattenspendenden Arkaden der Innenstadt. Frauen sind nur wenige zu sehen und niemals allein. Ältere im weißen Körperschleier, jüngere im langärmeligen Kleid und Kopftuch oder mit offenen Haaren - ein gemischtes Bild. Das jedoch ändert sich schlagartig bei einem privaten Besuch in einem Krankenhaus in Tripolis am Freitag, dem islamischen Feiertag. Das Gebäude ist voller Besucherinnen und Besucher, und 90 Prozent der Frauen sind von Kopf bis Fuß verhüllt, gleich, ob alt oder jung, nur ein Auge lugt hervor. Auch beim Besuch eines Marktes am Stadtrand sind Verkäufer und Käufer ausschließlich Männer, ganz anders als etwa in der syrischen Hauptstadt Damaskus mit ihrer langen städtischen Tradition. So drängt sich als Besucherin Libyens geradezu der Eindruck auf, daß es neben Reagan und dem Ölpreis noch ein drittes Hauptproblem gibt, nämlich das der Unterdrückung der Frau im besonderen und der sexuellen Unterdrückung im allgemeinen. Dies geht auch an männlichen Mitgliedern der Revolutionskomitees nicht spurlos vorüber. Auf die Frage, welche Änderungen er sich für Libyen wünscht, entgegnet einer von ihnen: „Mehr Möglichkeiten zur Abwechslung und Zerstreuung. Das Leben hier ist manchmal schon etwas eintönig. Ich wünsche mir Straßencafes, in denen man sich nach der Arbeit entspannen kann und mehr Clubs oder ähnliche Orte, wo sich junge Männer und Frauen treffen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen