: Von der Hegemonie zum Scherbenhaufen
■ Reaganomics: Elmar Altvater rezensiert für die taz ein neues Buch über Wirtschaft und Politik in den USA / Sozialer Kahlschlag führt zur Apartheid–Gesellschaft BUCHREZESSION
Über die Rede von der Eurosklerose macht sich inzwischen selbst der Spiegel lustig, nämlich über all jene forschen Geister, die den verkalkten Europäern die wirtschaftspolitische Roßkur der Reaganomics zur Krisenbewältigung andienen wollten. Auch die frappierende Einmaligkeit des US– amerikanischen „Beschäftigungswunders“ entblättert sich als effekthascherische Scharlatanerie, die nur kurzfristig und auf neoliberale Gläubige Faszination auszuüben vermochte. Der Feuer– und Budenzauber Reagans in den USA selbst hat viele Sozialwissenschaftler und Politiker geradezu in ein Delirium von Hingebung an den neokonservativen Charme der ganzen Corona von smarten Jungs und allegren Greisen versetzt. Die polemische Analyse des „Zeitalters von Reagan“, der „politischen Ökonomie der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren“, die Mike Davis vorgelegt hat, gehört zu jenen Schriften, die sich vom neokonservativen Charme nicht haben blenden lassen. Der gerade aus der Krisen– Asche emporgestiegene Phönix droht im Sturzflug eine gefährliche Bruchlandung zu machen. Zunächst einige Ernüchterungen. Die Beschäftigung im industriellen Kern der Gesellschaft hat in den 80er Jahren, wie in anderen „Industriegesellschaften“, auch abgenommen. Die eklatanten Zuwachsraten der Beschäftigung in den USA gab es ausschließlich „bei der Gesundheitsversorgung, bei den gewerblichen Dienstleitungen und in der Fast–food–Branche. Bei allen drei Sektoren stoßen wir auf eine spezifische Kombina tion von Billiglohn–Arbeitsplätzen und die Mittelschichten bevorzugenden Renten oder politischen Subventionen“ (Davis 87). Jedoch ist die Vorstellung absurd, dies wäre Ausdruck besonderer Dynamik und potenter Gesundheit. Denn die Arbeitsproduktivität erhöhte sich im angegebenen Zeitraum nur um 0,8 OECD–Europa immerhin um durchschnittlich 1,9 nach OECD, Employment Outlook). Die niedrigen Arbeitskosten verdanken sich, wie man weiß, einer brutalen Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, einer Schwächung der Gewerkschaften und einem Abbau von sozialen Leistungen. Die Auflösung der seit dem New Deal ererbten Arbeitsverhältnisse und der darauf beruhenden politischen Koalition ist ein politischer und sozioökonomischer Kahlschlag; keineswegs aber liegt es im Horizont der Politikstrategen der Reagan– Administration oder der sozialen Schichten, die sie stützten, auf dem kahlgeschlagenen Gebiet sozialer Beziehungen ein neues und langfristig tragfähiges Netz industrieller und politischer Beziehungen „aufzuforsten“. In den USA sind es die Zerstörung von industriellen und Sozialbeziehungen, für die das Reagansche Programm steht. Dann aber auch die Verlagerung der ökonomischen Basis aus dem territorialen Raum der New Deal–Koalition im Norden und Nordosten in den hemdsärmeligen und gewerkschaftsfreien Süden und Westen der USA. Im politischen System entspricht dieser Verschiebung die Krise der Demokratischen Partei (27 ff), der Aufstieg der „Neuen Rechten“ (13 ff) und die Entwicklung neuer Kanäle und Institutionen der politischen Willensbildung (19, 27, 39), durch die die Partizipation der Massen am politischen Prozeß nachgerade auf Null reduziert wird; Indiz: die abnehmende Beteiligung bei den Präsidentschaftswahlen. Die Perspektive dieses Projekts entdemokratisierter Politik und depolitisierter Demokratie ist nach Davis düster. Am Ende werden „wir es nämlich vielleicht mit drei deutlich separierten Gesellschaften zu tun haben“ (l65), mit einer Art Apartheid, die zum „ökonomischen Gewohnheitsrecht“ wird: Am einen Ende wird es die gutbürgerliche Ober– und Mittelklassengesellschaft geben. Um dieses „Paradies“ herum „legt sich der erste Höllenkreis der Verdammten - die Ghettos und Wellblechsiedlungen, die sich dann auch mit deklassierten und entindustrialisierten Schichten der weißen Arbeiterklasse füllen werden“ (166). Darum wiederum lagert sich ein zweiter Außenring von 20 bis 30 Mio., insbesondere illegalen und „Gast“arbeitern, „die über keinerlei Bürgerrechte verfügen und innerhalb des politischen Systems überhaupt nicht repräsentiert werden“ (166). Die synthetische Kraft der New Deal– Gesellschaft wird mit der doppelten Marginalisierung zersetzt. Die „dritte Welt“ verwirklicht sich im Zentrum der imperialistischen Macht. Die Wiederkehr des Verdrängten Und weltpolitisch? Die USA erhalten ihre dominante Position durch den weiteren Ausbau eines noch nie dagewesenen Militärapparats, mit dem einerseits Konflikte geschürt und andererseits militärisch „befriedet“ werden können. Doch im gleichen Maße wie die militärische Konfliktbereitschaft und -fähigkeit ansteigt, schwindet die Möglichkeit der ökonomischen und politischen Regulierung der einmal „pax americana“ genannten Epoche. Der Kurs des Geldes der Hegemonialmacht beschreibt Berg– und Talfahrten, und dabei sind selbst die schwindligen Höhen noch Ausdruck der Dollarschwäche. Denn nur die hohen Zinsen, nicht die überlegene Produktivkraft zieht Geld und Kapital wie ein Staubsauger aus den letzten Winkeln der Welt nach Wall Street und in die Free Banking Zone von New York, wo sie postwendend zur Finanzierung des Zwillingsdefizits verbraten werden: zur Schließung des Lochs der Bilanz der laufenden Posten von Jahr für Jahr an die 150 Mrd. Dollar und zur Finanzierung des Haushaltsdefizits, das seit Reagans Amtsantritt entgegen den Versprechungen der Angebotsökonomen auf jährlich über 200 Mrd. Dollar angestiegen ist. Fidel Castro hat Recht mit seiner Feststellung, daß US–amerikanische Präsidenten mehr als 100 Jahre benötigten, um die ersten 1.000 Mrd. Dollar Schulden zu machen. Reagan schaffte das gleiche in weniger als fünf Jahren. Noch in den 70er Jahren verliehen die USA netto rund 52 Mrd. Dollar an die übrige Welt. Doch allein von 1982 bis Mitte 1986 pumpten sie netto etwa 510 Mrd. Dollar aus dem Rest der Welt (Daten nach OECD). Die Hegemonialmacht ist inzwischen das Land mit den höchsten Außenschulden, die natürlich bedient oder entwertet werden müssen. Weder das eine noch das andere verträgt sich mit der Rolle einer Hegemonialmacht. Die USA haben ausgespielt, so sehr, daß im Wall Street Journal der Niedergang des britischen Empire in der Zwischenkriegszeit reflektiert wird - als Menetekel dessen, was 50 Jahre später mit den USA geschehen kann. Der Unterschied zu den 30er Jahren ist freilich deutlich genug. Damals tauchten die USA als junge Hegemonialmacht am weltpolitischen Horizont auf. Heute ist auch mit dem besten analytischen Teleskop keine Alternative zu den USA auszumachen. Die Krise wird folglich noch einige Zeit dauern. Diejenigen Analytiker sind ernst zu nehmen, die da warnen, daß der Weltgesellschaft der 80 Jahre die 30er Jahre noch bevorstünden... Mike Davis: Phoenix im Sturzflug - Zur politischen Ökonomie der USA in den 80er Jahren; Rotbuch Verlag, Berlin 1986; 206 Seiten, 24 DM
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