Entmündigung - Schutz und Hilfe für wen ?

■ Ein Recht aus Kaisers Zeiten bestimmt bis heute die Situation entmündigter Personen / „Unpersonen“ ohne Recht und Lobby, zum lebenslänglichen Aktenvorgang degradiert / Die unselige Rolle des Vormunds / Reformbestrebungen nach dem „österreichischen Modell“: Statt Verwaltung Beistand?

Aus Hamburg Udo Sierck

Daß es mit den Grundrechten behinderter, alter oder von der Psychiatrie betroffener Menschen nicht so weit her ist, bestätigte die Bundesregierung kürzlich mit ihrer Antwort auf eine große Anfrage der SPD zur Situation entmündigter Personen: Nach den offiziellen Angaben standen 1984 in der Bundesrepublik gut 164.000 Menschen unter einer Pflegschaft, 71.000 hatten einen Vormund. Schätzungen von Experten gehen davon aus, daß jährlich vier– bis fünftausend Entmündigte hinzukommen. Unrecht aus Kaisers Zeiten Das geltende Entmündigungsrecht stammt aus dem Jahr 1896. Nach seinen Bestimmungen ist der Volljährige nach der Entmündigung rechtlich einer Person unter 18 Jahren gleichgestellt. Vereinbarungen und Einkäufe über „Taschengeldbeträge“ hinaus bedürfen fortan der Zustimmung des Vormunds. Wer wegen Geisteskrankheit die Mündigkeit abgesprochen bekommt, wird gar auf die Stufe eines unter sieben Jahre alten Kindes zurückversetzt, selbst der Kauf einer Fahrkarte gilt als nichtig. Diese Festlegung verleugnet, daß auch geistig behinderte Menschen sich entwickeln und erwachsen werden. Darüber hinaus trifft alle Entmündigte der Entzug des Wahlrechts, das Verbot zur Niederlegung eines Testa ments sowie der Verfall des Rechts, seinen Wohnsitz selbst bestimmen zu dürfen. Andererseits landen alle Entmündigungen im Bundeszentralregister und tauchen im Führungszeugnis auf. Statt der Vormundschaft kann - ebenfall durch das Amtsgericht - eine Pflegschaft angeordnet werden. Diese umfaßt zwar nur einige Wirkungskreise wie die Vermögensverwaltung oder das Recht, in sogenannte Heilbehandlungen einzuwilligen. Die Pflegschaft kann aber zwangsweise eingesetzt werden und die Betroffenen damit in diesem Bereich völlig entrechten. Das geltende Entmündigungsrecht ist somit nicht nur aus dem Kaiserreich übernommen, sondern greift fundamental in die Persönlichkeitsrechte der Einzelnen ein. Heimkarrieren Untersuchungen haben herausgefunden, daß in etlichen Fällen der Entmündigungsantrag ein soziales Problem lösen soll: Behinderte scheitern bei der Wohnungssuche oder beim Organisieren des eigenen Haushalts, alte Menschen kapitulieren vor verwirrenden Briefwechseln mit den Behörden. Statt diese Schwierigkeiten in zeitaufwendigen Gesprächen in Kooperation mit ambulanten Diensten zu lösen, erfolgen offensichtlich die Einrichtungen von Pflegschaften als rascher Ausweg. Und wo die Handlungsfähigkeit der von einer Entmündigung bedrohten Menschen nicht aktiviert wird, zeichnet sich die Heimkarriere fast zwangsläufig ab. Die Alten– Selbsthilfeorganisation „Graue Panther“, die für die knapp 13.000 entmündigten über Sechzigjährigen das Wort ergreift, macht für diese Misere die Berufspfleger verantwortlich: Rechtsanwälte, die mehrere hundert Vormundschaften führen, sind keine Seltenheit. Individuelles Kennenlernen ist da unmöglich, die Betroffenen verkommen zu Aktenvorgängen. Dem Amtsgericht München stößt das nicht auf - es hält einen jährlichen Zeitaufwand von nicht einmal sieben Stunden pro „Mündel“ für vertretbar... Im Rahmen des Entmündigungsverfahrens hält sich der Richter meist an die Vorgaben der (medizinischen) Gutachten. Die Willkürlichkeit der Entscheidungen ist dabei offenkundig: Trotz identischer Rechtslage ordnen Gerichte in Hamburg, Bremen oder Schleswig–Holstein durchschnittlich bei etwa elf von hunderttausend Einwohnern eine Vormundschaft an; in Bayern, Rheinland–Pfalz oder Baden– Württemberg trifft es „nur“ etwa drei Bürger. Genau umgekehrt verhält es sich hingegen mit der Anordnung von Pflegschaften. Entmündigung als Ordnungsfaktor Die Entmündigung mit allen ihren Konsequenzen entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Maßnahme, um Menschen mit „beängstigendem“ Verhalten aus dem Alltagsgeschehen zu drängen. So verbirgt sich hinter dem vermeintlichen Schutz für den „Pflegling“ häufig die Angst der Familie vor einem Verlust des Ansehens durch einen „auffälligen“ Verwandten. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, daß mit einem Entmündigungsgesetz städtische Behörden und ländliche Verwaltungen ein Mittel besitzen, mit dem sie unbequemen Personen drohen und sie zur Raison bringen können. Entmündigung und Verwahrung dienen aus dieser Sicht vielmehr dem Schutz der öffentlichen Ordnung vor „lasterhaftem“ Lebenswandel. Entmündigungen treffen gegenwärtig nicht nur Pflegeheim– oder Psychiatrieinsassen. Immerhin wurden letztes Jahr knapp sechs Prozent der Entmündigten wegen „Trunksucht“ einem Vormund unterstellt. Der drohende Charakter des Gesetzes verstärkt sich, wenn man weiß, daß nur in zehn Prozent aller Fälle eine Wiederbemündigung erfolgt, die meisten Beurteilungen gelten lebenslänglich. Ohnehin ist der Betroffene im Entmündigungsverfahren zum Objekt degradiert: Nur in jeder fünften Verhandlung kommt es zur persönlichen Anhörung, lediglich jeder zweite Entmündigte erhält die richterlichen Beschlüsse zugestellt. Das Dilemma im Vormundschaftsrecht läßt sich heute nicht mehr beschönigen. Die deshalb hierzulande stattfindende Reformdebatte ist nachhaltig von dem Vorbild aus Österreich beeinflußt. Vorbild Österreich ? Seit dem 1.7.1984 macht Österreich Erfahrungen mit dem „Sachwaltergesetz“, das das alte Entmündigungsrecht abgelöst hat. Mit dem Recht fiel auch das Entmündigungsverfahren; geblieben ist die Möglichkeit, einen Sachwalter bzw. Beistand für einzelne, mehrere oder auch alle Angelegenheiten des Betroffenen einzusetzen. Der automatische Wegfall der Geschäftsfähigkeit existiert nicht mehr. Die Beistände, die nicht vom Amt gestellt werden dürfen, organisieren sich in Sachwaltervereinen. Die professionellen Sachwalter, in der Regel Sozialarbeiter, vertreten derzeit zwischen 25 und 35 Klienten. Doch bereits jetzt zeigen sich bedenkliche Schattenseiten des neuen Gesetzes: Noch immer werden 70 Prozent der Sachwalterschaften ohne Differenzierung für alle Lebensbereiche angeordnet. Die österreichischen Richter scheuen den Aufwand weiterer Verfahren, wenn sich die Anforderungen des Betroffenen verändern. Die Bestellung eines Beistands für alle Angelegenheiten bleibt demnach die bequeme Lösung, solange auf sie nicht grundsätzlich verzichtet wird. Neben der unverständlichen Klausel, daß mit der Beistandschaft das Wahlrecht verloren geht, konzentriert sich die Kritik auf nichts bewirkende Gummiparagraphen. So fordert das Gesetz, die verhängten Sachwalterschaften „in angemessenen Zeitabständen“ zu überprüfen. das ist bis heute in den wenigsten Fällen bzw. ohne wesentliche Konsequenzen geschehen. Zusätzlich zeigt sich derzeit in Österreich, daß die hauptberuflichen und in Vereinen organisierten Sachwalter in Interessenkollisionen geraten - eine Befürchtung, die auch von der bundesdeutschen Behindertenbewegung vorgesehen wird, falls das österreichische Gesetz Modellcharakter für die Bundesrepublik erhält. Statt Beistand Verwaltung Wenn ein Behinderter in einem Heim einer Fürsorgevereinigung wohnt, in einer von dieser Organisation unterhaltenen Werkstätte arbeitet und seinen Beistand in den Reihen desselben Vereins suchen muß, dann sind Interessenkonflikte offenbar. Solche Konstellationen lassen sich in der bundesdeutschen Fürsorge gegenwärtig bereits beobachten. Abgesehen von der Frage, ob ein Gesetz derlei Verfilzungen wirkungsvoll unterbinden kann, bleibt die von Entmündigten häufig gemachte Klage bestehen, daß allein das Bewußtsein um die Entrechtung schon die Diskriminierung darstellt. Und in Fachkreisen ist es kein Geheimnis, daß der Vormund oft der Helfer der Institutionen ist, der hilft, das „Mündel“ zu verwalten und den reibungslosen Anstaltsablauf zu garantieren.