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I N T E R V I E W Widerstand nach Tschernobyl

■ Interview mit Olga und Jurij Medwedkow, die vor zwei Monaten als erste Mitglieder der oppositionellen Trust–Gruppe die Sowjetunion verlassen mußten

taz: Im September wurden Sie gezwungen, die UdSSR zu verlassen. Wie hatten sie auf Tschernobyl reagiert? Jurij Medwedkow: Am 28.April erfuhren wir von Tschernobyl über den schwedischen Rundfunk. Am 5.Mai veröffentlichten wir einen Brief an den Obersten Sowjet. Dann machten wir Straßenaktionen, verteilten Flugblätter. Dabei wurden wir am 31. Mai verhaftet. Wir sagten den Polizisten, daß wir ein Referendum über die Atomkraft beginnen wollten, eine Möglichkeit, die in der sowjetischen Verfassung ausdrücklich vorgesehen ist. Man hielt uns da nur einige Stunden fest. Als wir aber weitermachten - z.B. haben wir zusammen mit westlichen Friedensaktivisten Flugblätter verteilt mit dem Tenor „Keine Hiroshimas, keine Tschernobyls mehr“ - wurden wir aus der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Wir forderten die Rücknahme dieser Entscheidung wiederum auf der Straße. So entwickelten wir etwas in der Sowjetunion bisher Unerhörtes: eine „Schule des Straßenaktivismus“. Wie gehts nun weiter? Olga: Allein in Moskau gibt es inzwischen etwa 1.000 aktive Unterstützer der Trust–Group, Wissenschaftler und Arbeiter, Baptisten und jüdische Bürger, Punks und Hippies. Bei Aktionen gleich nach unserer Ausweisung ist die Künstlerin Nina Kowalenko verhaftet und zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert worden. Schon im vorigen Jahr wurde sie zwangspsychiatrisiert, ihre Gesundheit ruiniert. Deshalb kündigten wir einen Hungerstreik vor zwei amerikanischen Fernsehsendern an. Stunden darauf war sie frei. Daran sieht man die Wirkung der westlichen Öffentlicheit in Moskau. Glauben Sie, daß es in der UdSSR in punkto Atomkraft einen Meinungsumschwung gab? Jurij: Ja. Selbst die Beamten sind nicht mehr einhellig pro Atomkraft. Glauben Sie, daß es möglich ist, das sowjetische Atomprogramm zu stoppen? Es hängt alles vom Druck der Bevölkerung ab. Durch Tschernobyl ist die Basis des trägen sowjetischen Systems, das Volk selbst, in Bewegung geraten. Hier liegt unsere Chance. Aber auch die westliche Friedens– und Ökologiebewegung sollte intervenieren. Wir brauchen die Erfahrungen und die Solidarität der Bürgerbewegungen und der kritisch denkenden Menschen im Westen. Das Gespräch führten Martina Kirfel und Walter Oswalt

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