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Die sozialen Nachbeben von San Salvador

■ Die Folgen des Erdbebens, das 1.500 Tote forderte und 300.000 Menschen obdachlos machte, sind noch überall spürbar / Hilfssendungen verschwinden / Neue Bürohäuser profitabler als der Bau von Wohnungen

Aus San Salvador Ralf Leonhard

Aus einzelnen eingestürzten Gebäuden werden - es ist Ende November - noch Leichen geborgen und die Luft ist noch immer geschwängert vom Staub, den das schwere Beben verursacht hat, das am 10. Oktober ganze Viertel von San Salvador in Schutt und Asche legte. Aber sonst ist die Hauptstadt des zentralamerikanischen Zwergstaates zu einer scheinbaren Normalität zurückgekehrt. Mehrere Firmen haben Aufkleber verteilt, die jetzt von den Heckscheiben der eleganten Autos verkünden: „El Salvador steht noch“. Die Mittel– und Oberschichten hat das Beben, das rund 1.500 Menschen tötete und 300.000 obdachlos machte, kaum getroffen. Sie mußten bloß einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, einen zeitweiligen Wasser– und Stromausfall, kaputte Telefonleitungen und ein bürokratisches Chaos - viele Ministerien und Institutionen sind in ihrem provisorischen Quartier unerreichbar oder unauffindbar. Das Stadtbild hat sich aber insofern verändert, als auch in kaum betroffenen Bezirken jede freie Fläche und selbst die Grünstreifen in der Fahrbahnmitte von Obdachlosen bevölkert werden, die überall ihre Karton– und Blechhütten aufgebaut haben. Die Regierung hat bisher nichts unternommen, um dem akuten Wohnungsproblem entgegenzutreten. Emperatriz de Sanchez ist vielleicht die meistgeprüfte Frau in San Salvador. Im Vorjahr mußte sie ihren Mann begraben, im Juli wurden zwei ihrer Söhne im Rahmen einer privaten Fehde von Agenten der berüchtigten Finanzpolizei kaltblütig ermordet, und mit dem Erdbeben verlor sie drei Töchter, einen Neffen und ihr Dach über dem Kopf. Das dreistöckige Gebäude gegenüber der Kirche San Esteban im östlichen San Salvador begrub auch ihre wirtschaftliche Existenzgrund Corina Soledad fischt ein staubiges Fotoalbum aus der engen Blechhütte, in der jetzt sechs Personen auf vier Betten wohnen. Der Stolz der Familie, die schlanke, dunkeläugige Schwester Margarita, stand knapp vor ihrem Diplom auf der Hochschule, als sie vom zusammenbrechenden Gebäude erschlagen wurde. Emperatriz Sanchez und ihre Restfamilie haben noch Glück: „Der Hauseigentümer hat versprochen, uns den Baugrund zu vermieten, wenn wir ein neues Haus hinstellen wollen.“ Die Schuttentfernung läuft jedoch auf ihre Kosten. Von der Regierung hat im ganzen Viertel San Esteban noch niemand etwas bekommen. Corina Soledad stellt resigniert fest: „Ich weiß nicht, was die Regierung mit den Hilfsgeldern macht“. Zinsgünstig angelegte Hilfsgelder Diese Frage stellen sich viele. Denn obwohl laufend über Spenden aus dem befreundeten Ausland berichtet wird, hat noch keiner bekanntgegeben, was mit den Geldern passiert. „Bisher ist damit gar nichts passiert“, erklärt Ricardo Hill, Sproß einer der reichsten Familien aus der Kaffeeoligarchie und Generalvertreter für drei japanische Automarken, „das Geld liegt auf der Bank und bringt Zinsen“. Hill ist eines der drei Mitglieder des Finanzierungskomitees für den Nationalen Notstand (COMFIEN), das für die Kanalisierung der Geldspenden eingerichtet wurde. Außer den 50 Millionen Dollar von der US–Regierung, die von einem eigenen Fonds verwaltet werden, sind bisher erst knapp zwei Millionen Dollar eingegangen, wovon etwa die Hälfte durch Benefizveranstaltungen im Lande selbst aufgebracht wurde. Mehrere Regierungen haben größere Summen versprochen aber noch kein Geld geschickt. Andere haben es vorgezogen, ihre Spenden über die Kirche zu kanalisieren, die sich schon in der ersten Phase der Erdbebenhilfe als weit effizienter erwiesen hat. „Warum ist die spanische Königin Sofia persönlich nach San Salvador gekommen?“, heißt es in einem äußerst bezeichnenden Witz, der seit dem königlichen Besuch die Runde macht: „Damit sie auch wirklich sicher sein kann, daß die Spende den betroffenen Kindern zukommt“. Eine ganze Wagenladung spanischer Sardinen ist zwischen dem Hafen Acajutla und der Hauptstadt spurlos verschwunden. Und viele vermuten daß Medikamente, die nie in den Krankenhäusern ankamen, in den Lagern der Streitkräfte, die ihre Fahrzeuge für die Transporte zur Verfügung stellten, gelandet sind. Fast zwei Monate nach der Naturkatastrophe hat die Regierung noch keinen globalen Wiederaufbauplan. Das Projekt, das Präsident Duarte vor kurzem den Vereinten Nationen vorlegte, beinhaltet lediglich einen Plan, wofür die 50 Millionen Dollar aus Washington ausgegeben werden. Eine Rubrik, die pompös „Schaffung von Arbeitsplätzen“ genannt wird, sieht die Bezahlung von 20.000 Arbeitern vor, die in 60 Tagen den Schutt entfernen sollen. Der Rest ist für Wiederaufbaukredite, Förderung des Kleingewerbes und öffentliche Dienstleistungen bestimmt. Die von COMFIEN verwalteten Spenden sollen in Fertighäuser aus den USA investiert werden. In neuen Siedlungen, die den schönen Namen COMFIEN 1, COMFIEN 2, usw. tragen sollen, können etwa 2.000 obdachlose Familien zu einem neuen Heim kommen. „Die Begünstigten sollen in einer großen Tombola ausgelost werden“, schwärmt Ricardo Hill. Für die verbleibenden 48.000 Familien, die derzeit in wackligen Buden am Straßenrand hausen, bleibt wenig Hoffnung auf ein besseres Zuhause. Für rund 21.000 Familien unterscheidet sich, nach Schätzungen der Baptistenmission, die provisorische Unterkunft qualitativ ohnehin kaum von der vom Beben zerstörten. Es handelt sich vor allem um Vertriebene aus den Kriegsgebieten und Obdachlose, die vom Erdbeben 1965 übriggeblieben sind. Verschüttete Justiz Das Problem ist keineswegs, daß die Baumaterialien in El Salvador nicht verfügbar wären. Wer über Energie und Mittel verfügt, hat längst auf eigene Faust begonnen, sich wieder ein festes Dach zu schaffen. Virginia Rivera Ascencio hat bereits vier Balken zusammenzimmern lassen und die Wände mit gebrauchtem Wellblech verkleidet. Sie wohnte gemeinsam mit elf weiteren Familien in einem „meson“, das vom fatalen Erdstoß völlig zerstört wurde. „Mesones“ sind ebenerdige Wohnhäuser mit Innenhof, meist in Billigstbauweise aus lehmverschmiertem Bambus errichtet, deren Zimmer, die häufig noch unterteilt wurden, einzeln vermietet werden. Durchschnittlich zehn bis 15 Familien wohnen in diesen Gebäuden mit gemeinsamen Wasch– und Sanitäranlagen. Es gibt aber auch „mesones“, die ganze Häuserblocks einnehmen und an die 100 Familien beherbergen. Nach dem Erdbeben hat der Eigentümer das Trümmerfeld an eine Frau vermietet, die ihrerseits bereit ist, die ehemaligen Mieter vorerst bleiben zu lassen. Sie müssen allerdings die Baukosten selber tragen und Strom und Wasser zusätzlich bezahlen. Virginia Rivera zahlte früher 17 Colones inklusive. Ab 1. Januar soll die Miete für rund 15 Quadratmeter Boden 25 Colones (fünf US–Dollar) betragen. Die Wasserrechnung beläuft sich auf durchschnittlich 13 Colones pro Familie. Das Mietengesetz aus dem Jahr 1958 kennt zwar die Zerstörung des Mietobjekts als Grund für die Beendigung des Mietvertrages, schützt aber den Mieter insofern, als es den Räumungsbefehl von einer Entscheidung des Mietgerichtes abhängig macht. Zahlreiche Eigentümer von eingestürzten „mesones“ in den historischen Bezirken nahe des Stadtzentrums haben bereits ihre Absicht kundgetan, die Häuser nicht wieder aufzubauen. Parkplätze oder Geschäftslokale im Stadtkern sind natürlich weit profitabler als die billigen Mehrfamilienunterkünfte. Ein auf Mietfragen spezialisierter Jurist erklärt den Grund, daß nicht schon eine Welle von Vertragskündigungen eingegangen ist: „Das Mietengericht ist seit dem Beben noch nicht zusammengetreten, da auch das Gerichtsgebäude unbenutzbar ist“. Enteignungsdebatte Erzbischof Rivera y Damas war der erste, der öffentlich die Enteignung der betroffenen Grundstücke als Lösungsmöglichkeit ins Gespräch gebracht hat. Präsident Duarte beeilte sich darauf kategorisch zu versichern, daß er das Privateigentum nicht antasten werde. Aber die Frage scheint innerhalb der regierenden Christdemokratischen Partei umstritten zu sein. Der Bürgermeister von San Salvador, Jose Antonio Morales Ehrlich, hat den Obdachlosen empfohlen, vorerst auf keinen Fall wegzuziehen. Und selbst die Nationalpolizei hat sich für die Beben–opfer eingesetzt, indem sie die von manchen Hauseigentümern errichtete Stacheldrahtverhaue um die Trümmerfelder demontierte. In Kirchenkreisen wird allerdings vermutet, daß die Sicherheitskräfte ihr alle Stadtteile überziehendes Spitzelsystem gefährdet sehen, wenn sich die Obdachlosen verlaufen. Die katholische Kirche hat mit ihren Spendengeldern vor allem dort helfen können, wo sich die Geschädigten organisiert haben. Monsenor Ricardo Urioste, der Verantwortliche des Erzbistums für die Bebenhilfe, meint, daß der Wiederaufbau an der Wurzel des Übels ansetzen müsse, nämlich beim Elend überhaupt. Auch die private gemeinnützige „Salvadorianische Stiftung für Entwicklung Mindestwohnbau“ (FUNDASAL) hat zwar ihre eigenen Projekte für Bebengeschädigte, will jedoch die Regierung von ihrer Verantwortung für eine globale Lösung nicht entbinden: „Die Regierung kann diese Verantwortung nicht an andere Körperschaften, seien es nationale oder ausländische, delegieren“. Gleichzeitig, so fordert die Stiftung in einer Zeitungsanzeige vier Wochen nach dem Beben, müsse das Problem des Grundeigentums, der Finanzierung, der Ausstattung mit Infrastruktur und unentbehrlichen Dienstleistungen sowie der Organisation der Betroffenen grundsätzlich bewältigt werden. Ein Investitionsvorschlag der Jesuiten Über die Finanzierung eines umfassenden Wiederaufbauprojektes haben sich zumindest die Padres der Jesuitenuniversität UCA den Kopf zerbrochen: „Die Regierung und die nordamerikanische Unterstützung investieren täglich rund zwei Millionen Dollar in den Krieg“, heißt es in einem an der UCA herausgegebenen „Brief an die Kirchen“, warum also nicht den von der Guerilla angebotenen Waffenstillstand annehmen, und das Geld in den Wiederaufbau stecken?: „Damit wären in sechs Monaten an die 360 Millionen Dollar verfügbar, also mehr als 20 verursachten Schäden gedeckt.“ Vertreter der Rebellenfronten FMLN–FDR prognostizieren eine gravierende Regierungskrise in etwa vier Monaten. Kaffee– und Baumwollernte absorbieren derzeit einen guten Teil der Arbeitslosen, die im März wieder auf der Straße sitzen werden. Außerdem, so meinen die linken Analytiker, wird bis dahin offensichtlich sein, daß die Regierung die durch das Beben nur quantitativ verschärften Probleme nicht bewältigt. Ein FDR–Sprecher in San Salvador sieht aber derzeit keinen Grund zum Optimismus: „Die Situation erfordert eine Neuordung der Volkskräfte, die noch nicht unternommen wird“. Die blutige Unterdrückung der städtischen Massenbewegungen zu Beginn des Jahrzehnts und die Eskalation des militärischen Konflikts haben die Zahl der fähigen Kader in San Salvador drastisch reduziert. So ist derzeit auch die Guerilla nicht in der Lage, aus der durch die Naturkatastrophe offengelegten Unfähigkeit der Regierung Kapital zu schlagen.

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