: Norwegen von der Völkerwanderung bedroht?
■ Die Asylbewerber hält man sich möglichst vom Leibe / Der Ruf des Friedensnobelpreis–Landes ist besser als seine Asylpraxis / Aber die Arbeitserlaubnis ist bei zwei Prozent Arbeitslosenquote kein Problem / 2000 neue Flüchtlinge werden insgesamt für 1986 erwartet
Aus Oslo Lothar Kunst
Dem jungen Flüchtling wurde zunächst eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis erteilt, mit der Auflage allerdings, sich weder politisch zu betätigen noch einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Der örtliche Polizeichef jedoch wollte ihn schnellstens wieder loswerden, und im Justizministerium prüfte man sogar die Möglichkeit seiner Auslieferung an das Terror– Regime. So nüchtern schildert Willy Brandt in seiner Autobiographie (“Links und frei - Mein Weg 1930–1950“) den Beginn seines Exils in Norwegen. Doch Brandt hatte Glück: Er konnte bis zur Invasion Norwegens durch die deutsche Wehrmacht bleiben. Die Fürsprache einflußreicher Freunde aus der norwegischen Arbeiterpartei bewahrte den jungen Lübecker vor der Ausweisung. Schlechter erging es ein halbes Jahrhundert später, im Herbst 1986, sechs Flüchtlingen aus dem Iran, vier Erwachsene mit zwei Kindern. Auch sie wollte der Chef von Oslos Fremdenpolizei schnell wieder loswerden. Von einem Polizeikonvoi mit Blaulicht wurden die Flüchtlinge hinunter zum Fährhafen der norwegischen Hauptstadt transportiert. Wenige Minuten vor Abfahrt der „Kronprins Harald“, dem Linienfährschiff nach Kiel, geleitete man die sechs Iraner an Bord. Erst tags zu vor hatten sie in Norwegen um politisches Asyl nachgesucht. Die Episode zeigt, mit welcher Schroffheit man sich in Norwegen das „Flüchtlingsproblem“ vom Leibe zu halten versucht. Tagtägliche Praxis etwa ist die Beschattung potentieller Asylbewerber durch norwegische Fremdenpolizei auf der Fähre aus Kiel. Tagtägliche Praxis ist auch die vorbeugende Paßkontrolle und -einsammlung auf Kopenhagens Flughafen Kastrup, durch dänische und norwegische Polizisten gemeinsam vorgenommen. Asylbewerber sollen bereits abgeschreckt werden, bevor sie die Grenzen des Landes erreichen. Angst vor der Völkerwanderung Die Rechnung geht auf, es kommen tatsächlich wenige an. Während Schweden 1985 etwa 14.500 und Dänemark 10.000 Asylbewerber aufnahmen, lautete die Zahl für Norwegen 829. Für dieses Jahr wird in allen drei Ländern eine Steigerung prognostiziert, und bei der norwegischen Fremdenpolizei erwartet man bis zu 2.000 Asylbewerber vor Jahresende. Eine vergleichsweise bescheidene Zahl, die in Norwegen jedoch Entsetzen auslöste. Noch vor vier Jahren, 1982, hatten nicht mehr als hundert Flüchtlinge um Asyl gebeten, und nun ließ sich mit dem Anstieg auf das Zwanzigfache leicht Stimmung gegen die Flüchtlinge machen. In der Öffentlichkeit wurde der Eindruck erzeugt, als sei die Völkerwanderung ausgebrochen - ein Zustrom von Asylbewerbern ohnegleichen, der dem Staat ein Vermögen kosten würde und der den politisch Verantwortlichen den Angstschweiß auf die Stirne treibe. Das sicher auch deshalb, weil in Norwegen die Medien kaum ein liberales Korrektiv zu Volkes Stimme darstellen. Im Gegenteil: Zeitungen, Radio und Fernsehen geben sich volkstümlich und wetteifern bei der Panikmache. Nachdem an einem September– Wochenende 36 Asylbewerber auf Oslos Flugplatz Fornebu gelandet waren, schrieb Aftenposten, die angesehenste Tageszeitung des Landes: „Europa macht seine Grenzen dicht, und nach Norwegen strömen die Asylanten.“ Annette Thommessen von der Norwegischen Organisation für Asylbewerber (NOAS) hält dagegen: „Wir werden nicht von Asylanten überschwemmt“, provoziert sie ihre Mitbürger in den Boulevard–Zeitungen und benutzt jede Gelegenheit, um vor zunehmendem Rassismus zu warnen. Aus dem Establishment des nordischen Königreichs sind es dagegen nur einige liberale Kirchenleute, die den Mut aufbringen, sich für die Flüchtlinge einzusetzen. Auf Unverständnis stößt die norwegische Flüchtlingspolitik auch in Dänemark. Als eines der reichsten Länder der Welt, so tönt es von dort, sollte der Verleiher des Friedensnobelpreises doch einen weniger bescheidenen Beitrag zur Lösung des Weltflüchtlingsproblem liefern. Auch sonst hätten die Norweger doch die politische Moral auf ihre Fahnen geschrieben und beklagten Unrecht in aller Welt. Flüchtlinge ja, aber nur wenige Was ist der Grund für soviel Reserviertheit? Zum einen soll den Flüchtlingen eine echte Chance zur Integration geboten werden,, was man nur für möglich hält, wenn die Aufnahmequote drastisch beschränkt bleibt. Tatsächlich finden Asylbewerber in Norwegen in der Regel bessere Bedingungen vor als in der Bundesrepublik. Die aufnahmebereiten Kommunen bekommen jeweils nur wenige Flüchtlinge zugewiesen. In Sprachkursen sowie Unterricht mit politischem und kulturellem Inhalt werden diese so gut wie möglich auf ihr neues Dasein vorbereitet. Eine Arbeitserlaubnis (die Arbeitslosenquote in Norwegen liegt bei zwei Prozent) wird gewöhnlich sehr schnell erteilt. Die Ablehnung der Flüchtlinge liegt jedoch nicht nur daran. Die Norweger haben als Folge einer Geschichte der jahrhundertelangen Fremdbestimmung und einer regional bedingten Eigenbrödler– Mentalität nicht das gute Verhältnis zu Fremden - insbesondere nicht zu Ausländern aus anderen Kulturräumen -, das man ihnen gerne zuschreibt. Und das spiegelt sich deutlich sowohl in der Haltung der Bevölkerung als auch in der offiziellen Politik wider. Das „Nein“ in der Volksabstimmung über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1972 war zu einem großen Teil von Ressentiments gegen eine Überfremdung des protestantisch–puritanischen Landes getragen. Im schlimmsten Falle fürchtete man die unbegrenzte Zuwanderung katholischer Südeuropäer mit laxer Moral. Seit nunmehr zwölf Jahren besteht ein streng praktizierter Einwanderungsstopp, der Ausnahmen fast nur bei Eheschließungen mit Ausländern und bei ausländischen Erdölexperten zuläßt, und der dazu geführt hat, daß nur zwei Prozent Ausländer in Norwegen leben, (BRD: 7,2 diese sind weniger geliebt als gelitten. Unter der Schlagzeile „Norwegen den Norwegern“ veröffentlichte eine Tageszeitung eine große Umfrage zum Verhältnis der Einheimischen zu den Einwanderern im Lande. Über die Hälfte der Befragten meinte, daß die Ausländer immer ein fremdes Element bleiben würden, und 44 Prozent wollten sie am liebsten in ihre Heimatländer zurückschicken. Ein gutes Viertel der befragten Norweger fühlte sich sogar durch den Anblick von Ausländern auf der Straße belästigt.
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