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Ausstieg aus dem Automobilismus

■ Die Technikfolgenbewertung für das Auto ergibt niederschmetternde Bilanz / Die „Wunschmaschine“ ist ein „Altlasten“–Produzent erster Ordnung Das Schlüsselprodukt des Industriesystems fordert Opfer wie im Krieg / Die Popularität des Autos verstellt den Blick auf Fortbewegungsalternativen

Beim Deutschen Bundestag soll eine Einrichtung zur Technikfolgenabschätzung und -bewertung gegründet werden. Man möchte nicht mehr in zu viele technisch bedingte Katastrophen „hineingeraten“. Neu an diesem Modell der politischen Technikauswahl ist, daß auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt werden. Mit diesen erweiterten Kriterien kann eine bilanzierte Folgenbetrachtung zu dem Ergebnis kommen, daß eine bestimmte „neue Technologie“, die nach technischen und ökonomischen Kriterien vielversprechend ist, dennoch nicht eingeführt werden sollte, weil sie erhebliche soziale und ökologische Risiken in sich birgt. Eine Überprüfung nach erweiterten Kriterien der sozialen und ökologischen Verträglichkeit müßte nach und nach auch für vorhandene „alte Technologien“ erfolgen. Ist hier das bilanzierte Ergebnis der Techniküberprüfung negativ, müßte der gesellschaftlich sehr schwierige Prozeß eines Ausstiegs aus der betreffenden Techniklinie organisiert werden und der Einstieg in eine sanftere und verträglichere Technikalternative. Das bekannteste „Ausstiegsprojekt“ ist die Atomtechnik. Für bestimmte Produkte und Produktionsverfahren der chemischen Industrie werden sich in der nächsten Zeit ebenfalls „Ausstiegs zenarien“ konkretisieren, ebenfalls mit den dazugehörigen Alternativen. Zu den dringend politisch überprüfungsbedürftigen technischen Altlasten gehört das hundertjährige Techniksystem „Automobilismus“. In kaum ein anderes ziviles Technikprojekt ist so viel Ingenieurskunst und Investitionskapital eingeflossen. Daraus könnte man auf eine hohe Reife dieses Produkts schließen, das kaum noch verbesserungsfähig ist. Über die Vorteile und „Errungenschaften“ des Automobils kann man sich auch schnell einigen. Es ermöglicht wettergeschützte Fortbewegung zu jeder Zeit, zu jedem Ort in müheloser Schnelligkeit. Es erweitert den Aktionsradius für Erkundungen, Kontakte und Erholung. Es transportiert und schützt eingekaufte Waren und hält von der Automobilistin männliche Belästigungen fern. Es gibt Ich–Schwachen und beruflich Gedrückten einen Ausgleich in Form von technisch unterstützter Potenzverstärkung, Überlegenheitsdemonstration und Statusverbesserung. Es stabilisiert ökonomische Strukturen, die einen großen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen und Arbeitskräfte an sich binden, und es gibt dem Staat über den Straßenbau ein ideales Konjunktursteuerungsmittel. Dieses technisch gewonnene Symbol der industriellen Dynamik, Fortschrittsgläubigkeit, ökonomischen Freiheit und Produktverfallenheit ist insgesamt ein so passendes Wunschkind der industriell–kapi talistischen Wirtschafts– und Konsumweise, daß es unbedingt erfunden werden müßte, wenn es nicht schon da wäre. Aber auch für kaum ein anderes ziviles technisches Projekt gibt es eine so erdrückende Menge negativer Folgewirkungen wie für das System des Automobilismus. Es „produziert“ tote und schwerverletzte Menschen in kriegsähnlichem Ausmaß. Wenn eine „neue Technik“ zur Einführung anstünde, von der man wüßte, daß sie in der Bundesrepublik jedes Jahr weit über tausend Kinder tötete und jedes Jahr mehr als hunderttausend Menschen lebenslang verkrüppelte, diese Technik hätte nicht die geringste Chance. Um die durch das Auto verursachten Umweltschäden und Naturzerstörungen auch nur aufzulisten, benötigte man seitenlang Platz. Das Auto ist, wie das Umweltbundesamt feststellte, der größte Luftverschmutzer, der größte Krachmacher, der größte Landschaftsfresser, und es säuft und säuft und säuft den Schatz der Ölvorräte aus. Besonders dramatisch ist die Zerstörung der Städte durch den versuch, sie autogerecht herzurichten. Wäre diese Zerstörung der Nahräume durch Blech, Asphalt, Beton, Lärm, Gestank und giftige Abgase mit einem Schlag erfolgt, selbst die Deutschen wären zu einer Revolution fähig gewesen. Durch die schleichende Gewöhnung jedoch wird die Autopest hingenommen wie ein unabwendbares Schicksal. Würde man „sachlich“ über Vor– und Nachteile eine Bilanz ziehen können, der Automobilismus wäre ein weiterer Ausstiegskandi dat, und Politik und Technik müßten sich auf verträglichere Fortbewegungsalternativen konzentrieren. Aber sachlich ist über das Auto nur sehr schwer zu reden. Es ist zu sehr beladen mit Wünschen, liebgewordenen Gewohnheiten, mächtigen ökonomischen Interessen, nationalem Prestige und dem Glauben an den technischen Fortschritt. Darum ist der systemkonforme erste Gedanke zur Bewältigung der unerwünschten Technikfolgen beim Automobilismus nicht der Ausstieg, sondern die Verbesserung der Autotechnik durch Technik. Es wird zu prüfen sein, wie weit man damit kommt. Wie läßt sich beispielsweise der Flächenverbrauch der Autos durch Technik reduzieren? Ein naheliegendes und sehr preiswertes Verfahren, die schädlichen Folgen des Automobilismus abzumildern, wäre die Zähmung der übermotorisieren Tempomobile, also die Geschwindigkeitsbegrenzung. Studien belegen eindeutig, daß dadurch schwere Unfälle, Schadstoffe und der Spritverbrauch drastisch gesenkt werden könnten und das praktisch ohne Funktionsverlust des Autos. Aber wie schwer es ist, gerade in der Bundesrepublik, dem irrationalen Komplex Automobilismus etwas Rationalität einzuverleiben, zeigt die Debatte der letzten Jahre über Tempobegrenzungen. DIE ZEIT schrieb vor einigen Jahren: „Wir Deutschen haben mühevoll gelernt, uns zu schämen angesichts der Folgen zweier von uns verschuldeter Weltkriege. Wir werden noch lernen müssen, uns zu schämen angesichts jener Entmenschung, die mit dem Automobilismus über uns gekommen ist...“ Wenn wir in diesen mühevollen Lernprozeß eintreten wollen, müssen wir unseren Blick auf das Auto verändern, Thesen, Fragen und Anregungen neu aufwerfen. Ist durch das Autosystem Zeit zu sparen oder ist das Auto auch eine Zeitklaumaschine? Erhöht der Automobilismus die Mobilität einer Gesellschaft, wenn Mobilität die Erreichbarkeit von Zielen ist und nicht gemessen wird als motorisierte Personenkilometer? Sind die Vorteile der Autonutzung nur auf Kosten der Nichtmotorisierten zu erlangen? Ist das Auto ein demokratisierbares Produkt? Wie würde ein Verkehrssystem und eine Stadtplanung aussehen, wenn nicht nur die Interessen der männlichen Berufstätigen mittleren Alters Planungsleitlinie wären, sondern Kinder, alte Menschen, nicht berufstätige Frauen und Nicht–Motorisierte, also die Mehrheit der Bürger mitbestimmen könnten? Oder wie verhalten sich Frauen zu der Machomaschine Auto, zu dem durch und durch von Männern bestimmten Automobilismus? Das Auto ist die Einlösung eines „Glücksversprechens der Moderne“, wiel es viele Kompromisse mit den Gewalt– und Horrorpotentialen unserer Welt ermöglicht. Zur Neubewertung des Automobilismus ist zuerst einmal wohl eines erforderlich: Sicherheitsabstand.

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