: Tschernobyl–Prozeß gegen die BRD beginnt
■ Siebenjähriges Mädchen klagt vor dem Münchner Landgericht / Erste gerichtliche Hürden bereits genommen / Zivilrechtliche Ansprüche auch gegen die UdSSR möglich / Gericht bestätigt Informationspflicht des Staates / Prozeß kann sich über Jahre hinziehen
Aus München Luitgard Koch
Vor dem Münchner Landgericht beginnt heute ein spektakulärer Zivilprozeß. Die siebenjährige Franziska B. klagt, vertreten durch ihre Eltern und den Münchner Rechtsanwalt Alexander Frey, gegen die Bundesrepublik Deutschland. Das Mädchen fordert Schadensersatz wegen des Reaktorunfalls von Tschernobyl und wirft Innenminister Zimmermann grobe Verletzung seiner Informationspflichten vor. Schon das Zustandekommen dieses Prozesses ist für Anwalt Frey ein Erfolg. Das Gericht hat die sogenannte Feststellungsklage auf Schadensersatz angenommen und die Informationspflicht des Staates ausdrücklich bestätigt. In der Klage ist diese Verletzung der Informationspflicht durch Herunterspielen und Verharmlosen der zentrale Punkt. Bereits zwei Wochen nach dem Reaktorunfall, am 13. Mai vergangenen Jahres wurde die Klage auf grundsätzliche Feststellung von Schadensersatzansprüchen gegen die Bundesrepublik, den Freistaat Bayern, die Stadt München und die Sowjetunion eingereicht. Die Klagen gegen den Freistaat sowie die bayerische Landeshauptstadt wurden aus finanziellen Gründen zurückgezogen. Schon jetzt hat das Verfahren 12. 000 Mark verschlungen. Allein der Streitwert im Prozeß gegen die BRD wurde vom Gericht auf 80. 000 Mark festgesetzt. Hinzukommen auch noch die zu erwartenden Gutachterkosten. Finanziell unterstützt werden die Kläger vom Ökofonds der bayerischen Grünen. Auch die „Mütter gegen Atomkraft“ engagieren sich, zumindest als aufmerksame Prozeßbeobachter. „Der Fairneßhalber mußte natürlich auch der Erstschädiger UdSSR verklagt werden, aber das ganze sollte auf keinen Fall einen antikommunistischen Touch bekommen“, betont Frey und erzählt von Zeitungen, die am liebsten mit der Schlagzeile „Münchner Kindl verklagt Gorbatschow“ aufgemacht hätten. Doch auch in diesem Punkt habe man bereits einen Erfolg zu verzeichnen. In einem vom Gericht geforderten Gutachten stellte das Münchner Institut für Internationales Recht fest, daß eine zivilrechtliche Klage möglich ist, da es sich nicht um einen Fall von Völkerrecht handle. Staaten–Immunität komme weder dem Betreiber des Reaktors von Tschernobyl noch der UdSSR zu. Geklagt werden muß jedoch entweder gegen den Betreiber des Reaktors oder die Industrievereinigung der Union für Atomenergie. „Wichtiger ist aber, was passiert bei uns in bezug auf die Haftung“, so Frey. Im Regelfall sind die Betreiber nur bis 500 Millionen versichert. Für Schäden bis zu einer Milliarde soll der Staat ein stehen. Nach vorsichtigen Schätzungen beträgt das Minimum des Schadens nach Tschernobyl jedoch bereits 200 Milliarden Mark. Frey weist im Zusammenhang mit der Haftung auf „amerikanische Verhältnisse“ hin. Dort wurde gesetzlich festgelegt, daß der Staat nicht nur mit einer Milliarde, sondern in unbeschränkter Höhe für Schäden durch Reaktorunfälle haftet. Doch letztlich kann die Haftung in solchen Fällen niemand übernehmen, sie ist unbezahlbar. Nicht zuletzt, um diese „Augenwischerei“ von der Haftung des Betreibers zu entlarven und dem Bürger seine Rechtlosigkeit bewußt zu machen, wird dieser Rechtsstreit geführt. Trotzdem: Die Klage hat auch reale Erfolgsaussichten, glaubt Frey. Hoffnung macht ihm ein positives Urteil aus den USA. Ende der 80er Jahre gewannen Bürger aus dem Bundesstaat Utah, die durch die radioaktive Verseuchung bei den Atomversuchen in den 60er Jahren an Krebs erkrankten, einen ähnlichen Rechtsstreit. Begründung des Gerichts: Eine „vernünftige Wahrscheinlichkeit“, daß die Erkrankung durch die Atomversuche ausgelöst wurde, reiche aus, da es den Bürgern nicht zugemutet werden könne, den Kausalzusammenhang nachzuweisen. Diesen Nachweis zu erbringen, kann die nächste Klippe im Prozeß werden. Aber auch die emotionelle Belastung für das Kind und die Eltern in diesem Prozeß, der sich über Jahre hinziehen kann, dürfe nicht unterschätzt werden. Der konkrete „Fall Franziska B.“ ist nämlich Gegenstand der Verhandlung. Damit sind unter Umständen etliche medizinische Untersuchungen für die kleine Franziska verbunden. Frey abschließend: Der politische Gedanke des Prozesses sei es, den Betreibern, sei es von AKWs oder Chemiebetrieben, klarzumachen: sie müssen für die eintretenden Schäden voll haften. Der Vertreter des Freistaats bezeichnete es als „sittenwidrig“, wenn die Klägerin gewinnen würde.
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