: Moskaus „Reformkurs“ an Friedensszene vorbei
■ Hitler–Gruß erweckt weniger Anstoß als Flugblätter für Abrüstung / Sowjetische Behörden messen regimekritische Aktionen mit zweierlei Maß / Einschüchterungsversuche durch Verhaftungen ziehen nicht / Massive Sanktionen gegen Vertrauensgruppe
Moskau (taz) - Vielleicht ändert sich was in der Sowjetunion. Viele Jugendliche, die schon seit Jahren mit den Behörden über Kreuz liegen, glauben noch nicht so recht daran, solange sie nicht in Ruhe gelassen werden, wenn sie ihre Art zu leben verwirklichen. Vor allem dann wurden und werden sie drangsaliert, wenn sie (im westlichen Verständnis) „linke“ Aktivitäten entfalten. Wenn sie, wie der Gründer der „Unabhängigen Initiative“ Jurij Popow im Juni 1983 auf Flugblättern für atomare Abrüstung, die Abschaffung der Todesstrafe und das Ende des Krieges in Afghanistan propagieren, sorgt das KGB schnell für die Einweisung in die Psychiatrie. Wenn dagegen andere Gruppen von Jugendlichen den 20. April, den Geburtstag des „Führers“ mit „Heil–Hitler“–Rufen begehen, dann wird dies als Ausrutscher interpretiert. Die Polizei jedenfalls hält sich bei diesen Gelegenheiten zurück. Die Lehrer solcher „Protest–Schüler“ werden dann von der regionalen Parteiorganisation lediglich angemahnt, „die ideologische Arbeit zu intensivieren“. Am 1. Juni 1984 demonstrierten wiederum über 500 Nonkonformisten und Friedensbewegte im Tsaritsino–Park, um am Jahrestag der großen Vietnamdemonstration von 1971 auf Afghanistan hinzuweisen. 400 von ihnen wurden festgenommen. Doch die erhoffte Abschreckung für die Jugendlichen trat nicht ein. Schon am 11. Dezember 1984 gab es wieder eine Demonstration, bei der 150 Jugendliche verhaftet wurden. Diesmal gedachten die Demonstranten John Lennon. Und auch heute sind Jugendliche dabei, wenn die Trust–Gruppen, die „Gruppen für Vertrauen zwischen Ost und West“, zu Aktivitäten aufrufen. Die Seminare der Vertrauensgruppe werden von Jugendlichen rege besucht, z.B. die über Friedenserziehung, über die Frage des traditionellen und des Kriegsspielzeugs. Dieses Seminar war dann im November letzten Jahres für den Geheimdienst Anlaß genug, die Lehrerin Anna Nelidowa und ihren Mann, den Kinderpsychologen Alexej Korostelew sowie ihren Sohn aus der Sowjetunion ausweisen zu lassen. Auch Victor Smirnows Einfluß auf Jugendliche muß zu gefährlich gewesen sein. Der 35jährige ist jetzt schon zum zweiten Mal in der Moskauer Klinik „Bjelie Stolbie“ eingewiesen. Während seines Aufenthaltes wurde sein Haus von „Unbekannten“ angezündet und fast völlig zerstört. Dennoch trafen sich danach wieder Jugendliche bei ihm, die den Vertrauensgruppen nahestehen und von denen sich viele aus unabhängigen Künstlergruppen her kennen, um für sie interessante Fragen zu diskutieren. Auch die erst 18jährige Natalia Akuljonok - Mitglied der Vertrauensgruppe - mußte die Schule verlassen und darf ihr Musikstudium nicht aufnehmen. Die ihr verabreichten Drogen haben zu bedenklichen Stoffwechselstörungen geführt. Der Kriegdienstverweigerer Dmitri Argunow wurde im Herbst 1985 gewaltsam in die Armee eingezogen. Diese Beispiele ließen sich endlos verlängern. Iwan S. Rupplow
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