: Kommt es zu neuen Massakern im Libanon?
■ Für die seit drei Monaten umzingelten Palästinenserlager im Libanon zeichnet sich eine Katastrophe ab / Über Funk berichtet ein Arzt der taz über den Zustand in einem der Lager
Tel Zaatar 1976, Sabra und Chatila 1982 - Orte und Daten, an die die Palästinenser im Libanon nur traumatische Erinnerungen haben. Mit kaum vorstellbarer Grausamkeit wurden Kinder, Frauen und Bewaffnete wahllos niedergemacht, die Lager völlig zerstört. Im Moment steht ein ähnliches Massaker an den Palästinensern in drei Lagern zum dritten Mal bevor. Im vierten Monat des Lagerkrieges herrscht Hunger und Verzweiflung unter den Eingeschlossenen. Kommt es in allernächster Zeit nicht doch noch zu einer politischen Lösung, steht ein Massensterben bevor. taz: Nach unseren Informationen erleben ca. 3.500 bis 4.000 Menschen jetzt den dritten Monat absoluter Blockade in Chatila. Wie kann man sich dieses Leben vorstellen? Giannou: Die Grundfläche des Camps ist ungeheuer klein geworden, nicht mehr als 200 mal 200 Meter und fast alle Gebäude, in Zahlen mindestens 95 Prozent der Häuser, sind zerstört. 25 Prozent können zwar momentan nicht bewohnt, aber vielleicht wieder aufgebaut werden. Der Rest, also dreiviertel ist so gründlich zerbombt, daß auch langfristig keine Reparatur mehr möglich ist, nur noch Bulldozer die Trümmer beiseite schaffen können. Die Leute leben in den großen Bunkern des Lagers. Der Klinik–Keller ist ungefähr 50 qm groß, ein anderer, in dem ebenfalls Patienten untergebracht sind, mißt 30–40 qm. Weitere Kranke und Verwundete sind in einem etwas weiter entfernten Bunker. Wenn ich von 50qm spreche, dann darf man sich das natürlich nicht als quadratische Grundfläche vorstellen. Überall im Lager haben sich Abfälle und Unrat gesammelt, im Zentrum des Camps z.B. gibt es jetzt eine regelrechte Müllhalde. Von einer benutzbaren Oberfläche kann man eigentlich nicht mehr sprechen, das sind vielleicht noch 50qm. Man muß sich also die 4.000 Menschen auf dieser Fläche und in den Bunkern vorstellen und kann sich ein Bild von der Enge machen. Wie geht das Leben in den Bunkern zu? Die Bewohner eines jeden Kellers haben Komitees gebildet, die sich um die notwendige Organisation kümmern, Trinkwasserversorgung, Lebensmittelrationen verteilen. Sie müssen zum Beispiel dafür sorgen, daß jeder sich regelmäßig waschen und sauberhalten kann, die Möglichkeit hat, Haare zu schneiden, mit Puder versorgt wird, daß sich Läuse und anderes Ungeziefer nicht rasend schnell verbreiten. Und natürlich müssen sie gegen die Kälte in den Bunkern kämpfen. All das sind die Aufgaben dieser Bunker–Komitees. Ist es nicht sehr schwierig, unter solchen Umständen einigermaßen hygienische Verhältnisse herzustellen? Richtig. Es ist vor allem die hohe Anzahl von Leuten, die versorgt werden müssen. Ansteckende Krankheiten breiten sich leicht aus. Schnupfen und Husten, alle Erkrankungen der Atemwege. Es ist kalt und feucht und die Luft ist sehr schlecht in den Kellern. Dann gibt es viele Hautkrankheiten, Ausschlag, Krätzmilben. Fast alle haben Magen– oder Darmbeschwerden. Problematisch ist natürlich auch die Ernährung. Besonders bei Kindern und Alten treten Mangelerscheinungen auf, das Milchpulver ist verbraucht, frisches Obst oder Gemüse haben wir seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Gibt es sauberes Trinkwasser? Trinkwasser ist fast noch wichtiger als Nahrung und wir hatten ziemliche Probleme damit. Durch die Bombardements wurdennahezu alle Leitungen zerstört. Wir haben versucht, sie zu reparieren, sie wurden wieder zerstört. Momentan geht es wieder. Ein kleiner Brunnen innerhalb des Camps funktioniert zum Glück, denn mit der externen Wasserversorgung und der Elektrizität ist es seit Ausbruch der Gefechte, also Ende November vorbei. Besonders kritisch wurde es im letzten Monat. An einigen Stellen wurde das Trinkwasser mit Abwässern verseucht und infolgedessen brach Typhus aus. Aber es scheint, daß wir die Lage wieder im Griff haben. Dennoch ist das Wasser nicht völlig sauber, die meisten Durchfallerkrankungen sind darauf zurückzuführen. Wie steht es um Lebensmittelvorräte, was wird gegessen? Momentan bekommen alle zweimal am Tag eine Ration. Wir sind also noch weit besser versorgt als die beiden anderen Lager, Rashediyeh und Bourj–el–Brajneh, das zweite Camp in Beirut, in denen zusammen ca 35.– 40.000 Menschen leben. Dort gibt es nur noch halbe Rationen und die Leute hungern. Hier in Chatila sind natürlich Mangelerscheinungen zu beobachten, aber die täglich benötigten Kalorien stehen zur Verfügung. Hauptsächlich getrocknete Saubohnen und Linsen, etwas Reis und Weizenschrot, alles in Wasser eingeweicht. Es gibt sogar noch Büchsensardinen und Tomatenmark. Das ist also noch akzeptabel, wenn auch schon längst keine Frage des Appetits mehr. Problematisch ist diese Ernährung allerdings für die vielen Magen– und Darmkranken, beson ders für solche mit Entzündungen und Geschwüren, für Diabetiker. Können Sie die medizinische Versorgung gewährleisten? Es fehlt schon an einer ganzen Reihe von Medikamenten, existentiell notwendige werden äußerst sparsam verwendet. In der Anästhesie müssen wir improvisieren, aber der Mangel läßt sich noch verwalten. Zu Beginn der Kämpfe, als die Leute noch nicht andauernd in den Bunkern waren gab es eine riesige Menge von Verletzten. Besonders tragisch waren eine Reihe von Amputationen bei Kindern, ein paar Familien sind durch eine einzige Bombe völlig ausgelöscht worden. Bis jetzt haben wir ca 400 Verwundete versorgt, anfangs waren es 60 schärfer wurden natürlich auch mehr verwundete Kämpfer. Pro Tag im Durchschnitt eine große Operation. Ganz besonders in den vergangenen Tagen aber mußte ich wieder ein paar schwere Operationen an Kindern vornehmen, Das waren regelrechte Blutbäder. Nach zweieinhalb Monaten sind die Kinder kaum noch in den Kellern zu halten, ständig versuchen sie zu entwischen. Und dabei sind jetzt kurz hintereinander Geschosse mitten in solche Kindergruppen explodiert. Einige waren auf der Stelle tot, ein Dutzend wurde sehr schwer verletzt. Und gerade bei Kindern sind Amputationen ganz schreckliche Eingriffe. Die psychische Belastung muß doch für alle Campbewohner extrem hoch sein? Ja natürlich. Materiell gibt es das Lager ja im eigentlichen Sinn nicht mehr. Niemand hat die Möglichkeit, sich einen Moment zurückzuziehen - schon lange nicht mehr. So entstehen psychologische Probleme. Wer würde unter solchen Umständen nicht nervös? Die Leute streiten sich aus den allernichtigsten Anlässen, sind nicht im mindesten ausgeglichen. Wie können die Leute sich beschäftigen? Da sind als erstes die Radios, die den ganzen Tag laufen. Und dann werden die Nachrichten dis kutiert, jede kleinste politische Nuance wird hin und her gewendet. Es wird überhaupt ganz viel geredet. Und obschon nur Kerzenlicht zur Verfügung steht, wird viel gelesen. Erstaunlicherweise Poesie. Und eine der täglichen Hauptaufgaben besteht darin, in all den Trümmern nach Holz zu suchen. Holz zum Feuermachen, damit wenigstens ab und zu heiß gegessen werden kann. Vor allem das Krankenhaus braucht Feuer, damit Wäsche und Verbandszeug gekocht werden können. Das hört sich alles ziemlich diszipliniert an. Es geht so auf und ab, momentan sorgen die Bunker–Komitees für einigermaßen diszipliniertes Verhalten. Das war aber nicht immer so. Momentan aber wird wieder viel diskutiert, das entspannt die Nerven etwas. Man sehnt sich schnellstens das Ende dieses Krieges herbei, aber wir wissen, daß diese Entscheidung am allerwenigsten in unserer Macht steht. Chatila ist das kleinste aller umkämpften Lager. Kann es gehalten werden, gibt es keine Überlegungen, aufzugeben? Aufgeben hat nicht ein Palästinenserlager vor Massakern bewahrt. Als 1976 der Widerstand im Lager Tel Zaatar aufgegeben wurde, gab es ein Massaker, als 1982 die palästinensischen Feddayin aus dem Libanon evakuiert wurden, mußten sie nur wenige Tage später auf den Fernsehschirmen mit ansehen, wie die Familien, die Frauen und Kinder von Sabra und Chatila in ihrer Wehrlosigkeit massakriert wurden. Sollten solch traumatische Erfahrungen vielleicht keine Konsequenzen haben? Sehen Sie die Möglichkeit einer politischen Lösung des „Lagerkrieges“? Nach allen Informationen, die uns hier erreichen, kann man auf politische Schritte hoffen. Praktisch, also am täglichen Geschehen hat sich allerdings nichts geändert und läßt sich eine anstehende Lösung auch nicht erkennen. Natürlich reden hier alle Leute davon, daß jetzt sehr bald der Waffenstillstand eintreten wird. Waffenstillstandverhandlungen und Gespräche laufen aber schon seit Wochen auf allen möglichen Ebenen. Ja, das stimmt schon. Und sehr bedenklich ist auch, daß es weder eine Feuereinstellung gegeben hat, noch irgendwelche Hilfsgüter, Nahrungsmittel oder Medikamente in irgendein Lager gekommen sind, obwohl von palästinensischer Seite alle Forderungen des Gegners erfüllt worden sind. Wir glauben sogar, daß PLO–Chef Arafat zu früh auf die Bedingungen von Amal eingegangen ist. Wie schätzen Sie das Durchhaltevermögen der Lagerbewohner ein? Können die Camps eine politische Lösung abwarten? Nehmen wir an, die Blockade der Lager geht weiter, so schätze ich, daß es am wenigsten Probleme vom militärischen Gesichtspunkt her gibt. Die Bevölkerung wird die Verteidigung zweifellos fortsetzen. Allerdings wird die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten von Tag zu Tag kritischer. Das trifft vor allem die Zivilisten. Und Chatila ist trotz der enormen Zerstörung noch am besten dran, es ist, weil es so klein ist, am besten zu überschauen, und militärische Disziplin läßt sich hier auch im Alltagsleben am leichtesten durchsetzen. Das Interview führte Joseph Kaz
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