: Verstrahltes Milchpulver für Kinder vordatiert
■ Eltern eines zweijährigen Kindes erstatteten Anzeige gegen Trockenmilchlieferanten / Das zu Trinkmilch aufgelöste Pulver, als Ersatz für die durch den radioaktiven Niederschlag nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl kontaminierte gedacht, war aus eben dieser Milch gemacht / Staatsanwalt suchte den Hersteller auf
Aus Kempten Anne Spöttel
Ein Jahr und acht Monate alt war Joachim, als der Atomreaktor in Tschernobyl explodierte. Seine Eltern, die Immenstädter Psychotherapeuten Dr. Ulrike und Dr. Dr. Erich Schott, wollten ihren Sohn so gut wie möglich vor den Folgen des atomaren GAUs schützen. Das Ehepaar beschloß deshalb, von Frischmilch auf Trockenmilchprodukte umzusteigen. Fast 24 Kilo Pulver zum Anrühren von Buttermilch, Joghurt und Vollmilch der Firma „Töpfer GmbH“, Dietmannsried, das ihr angeblich als eine „Produktion vor der Reaktor–Katastrophe“ verkauft worden war, trug Ulrike Schott im Juni 1986 nach Hause. Die Mutter konnte damals nicht ahnen, daß sie sich damit Lebensmittel mit einer Strahlenbelastung von sage und schreibe mehr als 26.000 (!) Becquerel in ihre Vorratskammer stellte. Kontaminiert ist vor allem das Buttermilchpulver mit nicht weniger als 2.222,1 Becquerel pro Kilo. Dabei ist nur das Cäsium 137, nicht aber das ebenfalls strahlende Cäsium 134 mit berücksichtigt. Dies ergab die Untersuchung, die das Ehepaar bei einem einschlägigen Institut in Emmering veranlaßt hatte. Aufgrund dieses Ergebnisses erstattete die Familie Schott am 9. Januar 1987 gegen die Firma Töpfer Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Kempten. Bereits am 3. Dezember 1986 hatten vier weitere Elternpaare aus dem Oberallgäu sowie deren acht Kinder, die zwischen eineinhalb und fünf Jahren alt sind, das Dietmannsrieder Unternehmen wegen kontaminierten Milchpulvers angezeigt. Auch das Kind Joachim Schott hat, vertreten durch seine Eltern, gegen die Firma Töpfer, Deutschlands ältestem Hersteller von Kindernahrung, Anzeige erstattet. Inzwischen besuchte der Staatsanwalt die Firma und nahm entsprechende Unterlagen mit. Der kleine Joachim, der inzwischen zweieinhalb Jahre alt ist, ist kein Kind wie jedes andere. Dreieinhalb Monate zu früh war er auf die Welt gekommen. Daß er überhaupt überleben könne, hatte am 29. August 1984 im Kemptener Stadtkrankenhaus niemand für möglich gehalten. Nach der Geburt blieben Komplikationen nicht aus. Aus Sorge um die Gesundheit ihres hochgefährdeten Sohnes wollte Ulrike Schott alles tun, um nach Tschernobyl jede zusätzliche Strahlenbelastung für ihr Kind zu verhindern. Sie be mühte sich vor allem darum, aufgrund eines Tips der Münchner Ernährungsberatung, in Reformhäusern, Apotheken und Drogerien unverstrahltes Buttermilchpulver zu kaufen. Vor allem auch, um wegen des für den Winter 1986/87 zu erwartenden und vorhergesagten zweiten Strahlungsschubs vorzubauen, hamsterte die Mutter 95 Packungen aus der Reihe „Naturaflor“ der Allgäuer Firma Töpfer. Die Trockenmilch–Pa kete trug Ulrike Schott mit dem sicheren Gefühl nach Hause, Ware aus der Produktion vor Tschernobyl erworben zu haben. Nach wie vor behauptet sie, sowohl die Verkäuferin wie auch die Leiterin des Drogeriemarktes in Immenstadt hätten ihr diesbezügliche Versicherungen abgegeben. Spätere Presseveröffentlichungen ließen bei dem Ehepaar Schott dann allerdings Zweifel aufkommen. Die bereits im Sommer eingekaufte Ware ließen sie freilich erst im Dezember 1986 wissenschaftlich untersuchen. Dabei kam Überraschendes zu Tage: In ihrer Strafanzeige vom 9. Januar 1987 behauptet nun das Ehepaar Schott, daß nicht ein einziges der fast 100 Pakete in der Zeit vor der Reaktorkatastrophe hergestellt worden sei. Die Chargen–Nummern, so die Schotts, dokumentierten die Produktionszeiten: nämlich Ende Mai bzw. Anfang Juni 1986. Und dann macht das Ehepaar für die Staatsanwaltschaft in Kempten diese schockierende Rechnung auf: Hätte ihr Sohn Joachim, der gesundheitlich ohnehin hochgefährdet ist, nur acht oder zehn Liter Buttermilch getrunken, angerührt aus dem erworbenen Trockenpulver mit der Chargen– Nummer 154 1656, das im Haus der Schotts lagert, hätte er allein dadurch die in der Strahlenschutzverordnung vorgesehene Belastungsgrenze von 30 Millirem pro Jahr erreicht, oder möglicherweise aufgrund der besonderen körperlichen Konstitution bis zum Doppelten - also rund 60 Millirem - überschritten. In ihrer Strafanzeige fordern die Eltern die Kemptener Staatsanwaltschaft auf, folgende „Straftatbestände“ zu durchleuchten: 1. Inverkehrbringen von Lebensmitteln unter irreführender Bezeichnung (§§ 17 Abs. 1 Ziffer 5b, 52 Abs. 1 Ziffer 10 LMBG); 2. Betrug (§ 263 StGB); 3. Mißbrauch ionisierender Strahlen (§ 311 a StGB); 4. Gemeingefährliche Vergiftung (§ 319 StGB); 5. Verkauf von gesundheitsschädigenden Lebensmitteln (§§ 8 Ziffer 1 und 2, 51 Abs. 1 Nr. 1 LMBG). Der Sonthofener Amtsrichter Thomas Walther, der mit den Eltern Joachims in der „Umweltinitiative Allgäu“ freundschaftlich verbunden ist und bei der Formulierung der 16–seitigen Strafanzeige behilflich war, stellt in diesem Zusammenhang folgende Fragen: „Wieviele Eltern wurden wohl in gleicher Weise getäuscht? Hat die Firma die Sorgen und Ängste der Eltern zur Ausweitung ihrer Marktanteile im Trockenmilch–Boom nach Tschernobyl ausgenutzt?“ Die Dietmannsrieder Firma Töpfer, vertreten durch ihren Produktionsleiter Heribert Westermaier, erklärte: „Wir haben nie Ware auf den Markt gebracht, die den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen hätte“. Man habe nur beim Verkauf von Vollmilchpulver einen „Fehler“ gemacht, indem man 50.000 Packungen mit dem Hinweis für den Fachhandel „vor der Reaktor–Katastrophe hergestellt“ vertrieben habe.
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